GESELLSCHAFT
Vorwärts 14. November 1997
Politische, wirtschaftliche und strukturelle Gewalt traumatisiert- medizinische und psychologische Unterstützung als Beitrag zur Befreiung». Unter diesem Motto steht die Tagung des linken Hilfswerks «Centrale Sanitaire Suisse» CSS vom kommenden Samstag, das sein sechzigjähriges Bestehen feiert (vgl. auch Vorwärts 26.9.). Aus gegebenem Anlass einige Gedanken der Psychoanalytikerin Ursula Hauser zum Thema «Geistige Gesundheit und Gewalt». Ursula Hauser arbeitet in Costa Rica, wo sie Frauen in diesem Bereich ausbildet
Was ist «geistige Gesundheit»? Eine Illusion, eine Utopie, ein Konzept der Unmöglich-keit? Jedenfalls bewegen wir uns mit diesem Thema zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in einer Realität, die nicht allzu viel Optimismus zulässt. «Geistige Gesundheit» gibt es nicht. Der Begriff beinhaltet die historische Spaltung von Körper und Geist, die in unserer westlichen (kapitalistischen) Welt immer größer wird, ebenso wie die Spaltung zwischen arm und reich. Der Körper soll zur Konsummaschine, der Geist zum Roboter reduziert werden; der Mensch wird als Ware verwertet oder ist unbrauchbar, unnütz und störend.
Und wo bleibt die Psyche? Welche Möglichkeiten existieren zur Persönlichkeitsentwick-lung? Wenn diese unter anderem als «0rt der menschlichen Gefühle und Konflikte» verstanden werden soll, die phantasieantreibend und -bewegend sind, hat sie keine große Chance zum Überleben oder gar zum Wachsen.
Immer dringender stellt sich die Frage: Was tun? In unserem Zusammenhang heißt sie: Wie können wir uns der Utopie der «Gesundheit» im integralen Sinn nähern. Ich denke, es ist grundsätzlich ein politisches Problem, denn die meisten der vorgegebenen «Lösungen» und «HeiIungsmodeIle» sind im Dienste des «Medicozentrismus» ein gutes Geschäft, Ablenkung von der Suche nach der Ursache des Übels im Sinne der passiven Anpassung an das (krankmachende) System, oder mindestens illusionenbildend.
In wessen Dienst stehen solche «Gesundheitsmodelle»? Welche «GIücksvorstelIung» liegt ihnen zu Grunde, und welcher Begriff von «Normalität» bestimmt ihr Handeln?
Gehen wir unserer Utopie nach, so möchte ich stichwortartig die minimalen und notwen-digen Voraussetzungen für ein «gesundes Wachstum» nennen:
1. Gewaltverminderung, und zwar von der sexuellen Gewalt in der Familie bis zu Kriegsverbrechen, 2. eine gesicherte Existenz, die ein Recht auf (sinnvolle) Arbeit, auf Bildung, medizinische und psychologische Betreuung einschließt, 3. Möglichkeiten zur Konflikttoleranz und -bewältigung, 4. Förderung der menschlichen Kommunikation, 5. ein Gesellschaftssystem, in dem das Wohl der Frau, des Mannes und der Kinder im Mittelpunkt steht.
Die Utopie ist demnach dieselbe wie vor dreißig, sechzig oder 150 Jahren; es muss auf ökonomischer, sozialer und individueller Ebene Gerechtigkeit geschaffen werden. So-lange das Klassensystem, die Spaltung von arm und reich, die Ausgrenzungspolitik, der Warenfetischismus und die Diskriminierung existieren, kann niemals Friede herrschen, kann die menschliche Entwicklung nicht zur aktiven und kreativen Persönlichkeitsent-wicklung führen, kann «Gesundheit» nicht im geringsten erreicht werden, sind Traumatisierungen schlimmster Art Teil des Systems.
Äußere und innere Machtstrukturen
Nur wissen wir inzwischen durch schmerzliche Erfahrungen, dass dies auch im Kommu-nismus, wie er bis anhin verwirklicht wurde, nicht möglich war, ganz im Gegenteil, und fügen deshalb unserer Frage hinzu: Was tun -und was vermeiden? Vorerst, denke ich, geht es darum, Geschichte aufzuarbeiten. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten; verstehen und bestenfalls verändern können, bedingen sich gegenseitig. Wer bin ich? Was willst du? Wer sind wir, was wollen wir? Oftmals wurden solch grundsätzliche Fragen in den linken Organisationen ausgeklammert * und für selbstverständlich genommen.
Die Ausweitung der CSS-Aktivitäten auf den Sektor «Geistige Gesundheit» ist unerhört wichtig, er führt uns auch zur Frage: Weshalb erst jetzt? Wie sind die linken Organisationen mit der Psychologie im allgemeinen, der Psychoanalyse im besonderen umgegangen? Wo liegt die Angst vor der Verrücktheit, dem Irrsinn, vor dem «Chaos der Emotionen», vor der Frage nach der eigenen Subjektivität? Weshalb zeigte sich oft auch in linken Gruppen die Widerspiegelung des patriarchalischen, bürgerlichen Familienmodells mit der einhergehenden unbewussten Anpassung an hierarchische Machtstrukturen? Wie steht es demnach mit der Gewalt in den «eigenen Reihen»?
Durch die Forschungen in der Ethnopsychoanalyse wissen wir, dass niemals nur nach dem «Fremden» gefragt werden soll, ohne das «Eigene» mitzudenken, damit die automatische Reproduktion von Vorurteilen, die im Unbewussten verankert sind, vermieden werden kann. Dies gilt besonders für die Arbeit im Problemkreis der Traumatisierungen (durch Gewalterfahrungen, die Red.), die allzu leicht - besonders in Europa - zu einem exotischen interessanten Thema und zudem zu einem neuen Psycho-Markt pervertiert werden, in dem Spezialistlnnen ihre Objekte voyeuristisch untersuchen, oder im Gegenteil aus linker Solidarität sich überidentifizieren mit dem «Schicksal» des/der anderen, den «Helden- und Martyrerkult» pflegen.
Traumatisiert sind wir alle mehr oder weniger, bewusst und unbewusst. Es ist ein quan-titatives Problem, das mit den Umständen der spezifischen Realitätserfahrung zusammenhängt, wann und wie menschliches Leiden in eine traumatisierende Erfahrung umschlägt. Die Frage unseres persönlichen Engagements und der sechzigjährigen aktiven Hilfe des CSS in Ländern der so genannten «Dritten Welt» geht also auch nach «innen», führt zur Frage: Wo liegt meine Motivation für dieses Engagement? Wie bin ich persönlich verbunden mit dem Gefolterten oder der Vergewaltigten? Nur so erreichen wir eine wirkliche Solidarität, durch das Bewusstwerden des eigenen Leidens an diesem System, und dadurch wird die Auflehnung, der Widerstand und schließlich das politische Engagement aus der persönlichen Geschichte heraus mit der eigenen Leidenschaftlichkeit verbunden. Wenn das «Eigene», Subjektive ausgeblendet wird im politischen Kampf, dann gehen die Gefühle verloren, dann besteht die Gefahr, dass wir zu Technokraten des Hilfsdienstes oder zu Funktionären, zu Spezialisten verkümmern. Im Bereich der Traumatisierungen zu arbeiten, heißt ebenso wie im ganzen Bereich der «Geistigen Gesundheit», vorerst radikal auch sich selber in Frage zu stellen.
Welche konkreten Formen von Widerstand entwickelt werden können, die über eine oberflächliche «SymptombehandIung» hinausgehen und im besten Falle zu strukturel-len Veränderungen fuhren können, hängt unter anderem damit zusammen, wie sowohl den äußeren Machthabern wie auch den verinnerlichten Machtstrukturen «begegnet» werden kann. Das heißt, wie anstelle von Schweigen, Vergessen, Ungeschehenmachen, Verleugnen dem Grauen ins Gesicht geschaut werden kann.
Ursula Hauser