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PART II WOMEN AS PROTAGONISTS IN THE STR
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PSYCHODRAMA HINTER MAUERN

‘Gaza Psychodrama Group without Borders’ 

Zwischen Gewalt und Hoffnung

´Zwischen Gewalt und Hoffnung´ heisst unser Leitmotiv, mit dem wir seit über 10 Jahren in Gaza / Palästina im Bereich der psychosozialen Arbeit unser Psychodrama Ausbildungsprojekt am GCMHP (Gaza Community Mental Health Program) und PMRS (Palestinian Medical Relief Society) durchführen! Das Projekt wird von ‘medico international Schweiz’ unterstützt und kann auch mit der Hilfe des DEZA rechnen, das nebst ‘medico international Deutschland’ für die Einreisebewillingungen nach Gaza einsteht. 

Wir sind stolz darauf, dass unsere Arbeit das einzige langfristige Projekt im Bereich von Mental Health in Gaza ist, das durchhalten konnte über all diese Jahre hinweg, und das auch jetzt weitergeht, mit Verstärkung von anderen PsychodramatikerInnen aus Europa, die solidarische Arbeit mit uns zusammen leisten. Wahrlich ein kleiner Sieg über Kriegstreiben, Mauern, Checkpoints, Ausgrenzungen, Stigmatisierungen und Demütigungen der palästinensischen Bevölkerung gegenüber. Wir können sogar vorwegnehmen, dass wáhrend dieses Jahres 2013 die nationale palästinensische Psychodrama Vereinigung gegründet wird, die unser Projekt in Gaza mit dem FREEDOM THEATER in Yenin, der PMRS Gruppe in Nablus und dem TRC (Treatment and Rehabilitation Center for Victims of Torture) in Ramallah verbinden soll; ein Netzwerk, das auf professioneller Ebene den Austausch, die Ausbildung und die Vertiefung der Kenntnisse im Bereich des Psychodramas fördern soll. Unsere Gruppe in Gaza kann bisher ihre KollegInnen in Ramallah nicht besuchen, sie leben hinter Mauern, aber mit Video Konferenzen und dank dem Internet ist doch eine Verbindung möglich.

Wenn Maja Hess, die Ko-Leiterin im Ausbildungsprojekt, oder ich als verantwortliche Ausbildnerin und Psychodrama Leiterin – jeweils unser Projekt vorstellen, mit Vorträgen und der DVD als Zeugnis, dass wir während 10 Jahren eine Gruppe von interdisziplinären KollegInnen des GCMHP und der PMRS als PsychodramatikerInnen diplomieren konnten, kommen die verschiedensten Reaktionen im europäischen Publikum; für viele wirkt das Projekt unglaubwürdig, und oft kommen Vorwürfe gegen uns, wir seien anti-semitisch eingestellt, oder noch schlimmer: wir würden Propaganda fúr Terroristen machen!

So wenig ist bekannt darüber, was hinter den Mauern passiert, und so gut wirkt diese Strategie der Ausgrenzung, um eineinhalb Millionen Menschen als ‘Terrorist/Innen’ abzustempeln! Linke Psychoanalytiker/Innen haben seit den Anfängen der Psychoanalyse die verheerende Wrikung der projektionen und der Manipulation mit den Massenmedien hingewiesen, immer noch ist die Arbeit von Wilhelm Reich ‘ Massenpsychologie und Faschismus’ aus den 30-er Jahren wegweisend, leider immer noch top aktuell. Immer ausgekúgeltere Sttrategien warden von Psycholog/Innen erfunden, um Feindbilder zu entwerfen, den teuflischen Zirkel der Gewalt zu verschärfen; und die Politik der Kriegsgeschäfte blüht wie noch nie zuvor.

Dies ist kurz skizziert der Hintergrund, auf dem wir unser Projekt realisieren, und obwohl bereits Ende der 90-er Jahre, nach dem Betrug und der Illusion des Friedensabkommens von Oslo (1995) – sichtbar war, dass die Konflikte zunehmen warden, hätten wir niemals gedacht, welche Form sie anehmen würden. Zu gleicher Zeit, da Europa der Fall der Mauer als grossen Triumph feierte, wurden bereits die Mauern in Palästina vorbereitet, die die Bevölkerung zersplitterte, die auch israelische und palästinensische Nachbarn trennten und letztlich zu Feinden stigmatisierten. Eine verzweifelte selbstgebastelte Kassam Bombe aus Gaza hatte zur Antwort eine massive ‘Bestrafung’ seitens einer der best ausgerüsteten Armee. In anderer Form ging die Intifada weiter, und die Gewalt eskalierte mit jedem Siedlungsbau seitens der Besatzungsmacht Israel mehr.

Ist psychosoziale Arbeit überhaupt möglich in einer solchen Situation? Unsere palästinensischen Partner Organisationen und auch die israelische Organisation ‘Physicians for Human Rights’ überzeugten uns davon, dass eine solche Arbeit immer notwendiger wird, um zu versuchen, die Gewaltspirale einzudämmen, der Todeskultur der fundamentalistischen Gruppen eine Kultur des Lebens entgegenzuhalten; zu versuchen, die tiefst menschlichen Gefühle nicht nur von Hass, sondern von Liebe und Solidarität zu fördern.

Freud hatte wohl recht, als er annahm, zuerst war der Hass, dann käme eventuell die Liebe, dann begänne die grosse Arbeit der Menschen an der Kultur, um vom Tier zum menschlichen sozialen Wesen zu gelangen….! Er blieb pessimistisch, bezichtigte die Sozialist/Innen und Kommunist/Innen als Idealist/Innen, die die wahre menschliche Realität nicht kennen würden. Und doch arbeitete er bis zum Tode an seinen Theorien über Gesellschaft, Kultur, menschliches Zusammenleben, und sein letztes grosses Werk ‘ Moises und die monotheistischen Religionen’ können wir in unserem Kontext der Religionskriege zwischen Moslems, Juden, Christen, die wohl auf konkreten materialistischen Interessen beruhen und doch alle präsent sind in Jerusalem und im ‘unheiligen Land’, einreihen !

Oft müssen auch wir uns dagegen wehren, die Todestriebs Theorie anzunehmen und in Resignation zu verfallen. Wir sehen uns tramatisierten Menschen gegenüber, die sich immer gegen neue Traumatisierungen zur Wehr setzen müssen und ständig in Unsicherheit leben: kommt morgen wieder eine Bombe und zerstört die Familie, das Haus, die wenig úbrig gebliebenen Olivenhaine?

URUGUAY – NUNCA MÁS - NIE WIEDER!

 

Die Spuren der Diktatur in der dritten Generation.

Eine Forschungsarbeit mit Psychodrama

 

Ursula Hauser (San José/Costa Rica – 9731 km)

Obwohl schon in den 70-er Jahren ein reger Austausch von uns Zürcher PsychoanalyitkerInnen und den österreichischen KollegInnen bestand, sind für mich die letzten 30 Jahre doch besonders wichtig: unser ‚Brüggli‘ – ein Ausdruck, den Karl Fallend für unsere internationalen Freundschaftsbeziehungen geprägt hat – wurde durch meine ungeplante Migration nach Zentralamerika besonders stark.

Die freundschaftlichen Besuche der europäischen KollegInnen in Nicaragua und später in Costa Rica benutzten wir, um – neben den genüsslichen Parrillas, politischen Diskussionen und dem Strandleben in Palo Seco, unsere psychoanalytischen Tätigkeiten auszutauschen und die Organisation ASPAS (Associacion de psicoanalisis critico social: www.aspascostarica.org), zu stärken.

Durch meinen Lebenspartner Antonio Grieco, ein uruguayischer Tupamaro, wurde ‚das Brüggli‘ weiter nach Südamerika gespannt, wo mein neues Forschungsprojekt angesiedelt ist, das ich hier vorstelle.

Vor 41 Jahren erlitt Uruguay den Militärputsch, der ´die Schweiz von Südamerika´ in ein verarmtes Land mit einem traumatisierten Volk verwandelte.

Die 13jährige Militärdiktatur zerstörte beziehungsweise zerstreute Familien und soziale Netzwerke in alle möglichen Länder.

Bereits vor dem Militärputsch in den 1960er Jahren hatten die Tupamaros die Ausbeutung der armen Schichten durch die reichen oligarchischen Machthaber der beiden grossen Parteien - ‚Blancos‘ und ‚Colorados‘ – mit spektakulären Aktionen aufgezeigt, z.B. der von Raúl Sendic organisierte Zuckerrohrarbeiter-Marsch in die Hauptstadt Montevideo.

Die ökonomische Krise der 1960-er Jahre führte zur Gründung der grössten und überparteilichen Gewerkschaft, die PIT-CNT, die als Vorläuferin der 1971 gegründeten Frente Amplio gilt.

Heute stellen die Tupamaros die Regierung! Die ehemaligen als Terroristen denunzierten AktivistInnen genießen in Lateinamerika und Europa einen guten Ruf.

Dies gilt vor allem für den Staatspräsidenten Pépe Mujica, der nach 13 Jahren Gefängnis ungebrochen seine revolutionäre Ideen und seine bescheidene Lebensweise weiter verfolgt.

In diesem Kontext, verstärkt durch die persönliche Verstrickung durch Antonio und weil wir gemeinsam die Tupamaros unterstützten, siedelte ich mein neues Projekt in Uruguay an. Antonio verstarb leider bereits 1996 an einem Herzinfarkt, das heißt an den nachträglichen Folgen der Folter, die er im Gefängnis zwar überlebte, die aber Spuren hinterliessen. 1981 lernte ich ihn, der in den langen Jahren des Exils, immer Internationalist und politischer Kämpfer blieb, in Nicaragua kennen. Liebe und Revolution haben mich zu einer Migrantin gemacht und mit Uruguay auf spezielle Art verbunden.

Den Anstoß gab ein Traum vor drei Jahren:

„Ich sitze auf dem Rand eines Bootes, bereit zum Tauchen, mit den Pressluft-Flaschen auf dem Rücken (so wie ich es in Kuba gelernt habe). Antonio taucht auf und fragt mich: wie geht Deine Forschung? (ich weiss sofort, wovon er redet: Die Spuren der Diktatur in der dritten Generation) Ich sage: alles geht gut, aber ich habe eine Frage: soll ich nur mit den Enkelkindern der Linken arbeiten, oder auch mit Nachkommen der Militärs? Antonio antwortet: mach die Forschung so breit als möglich!“

 

Als ich erwachte, begann ich an diesem Projekt zu schreiben, das ich im letzten Mai begonnen habe und nun weiterführe.

Auch nachdem die Militärdiktatur 1985 in Uruguay endete, blieben Antonio und ich in Costa Rica, im verlängerten Exil, da 1987 durch einen Volksentscheid das Gesetz zur Straflosigkeit der Folterer in Kraft trat. „Vergessen und Verdrängen“ war die Devise und ist es bis heute. Obwohl einige der hauptverantwortlichen Generäle inhaftiert wurden, gilt das Gesetz immer noch. Folterer und ihre Opfer leben potentiell Tür an Tür.

Antonio musste das erleben. Während einem seiner Besuche sprach ihn im Bus einer seiner Peiniger an, „Grieco, kennst du mich noch?“ und suchte ihm die die Hand zu reichen. Damit war entschieden, ein Leben für ihn war in Uruguay unmöglich.

Ich bedauerte diese Entscheidung sehr. Hatte ich mich doch mit psychoanalytischen KollegInnen vom Cono Sur (Argentinien, Uruguay, Chile), die ich von der Plataforma Internacional (1969-89) her kannte, an konkreten Plänen gearbeitet, wie z.B. ein Universitäts-Curriculum, in dem der Psychoanalyse und den Gruppenmethoden ‚ Grupo operativo‘ und Psychodrama ein besonderer Platz eingeräumt wurde. Aber ich respektierte Antonios Entschluss. In der Folge verwirklichten wir in den 1980er Jahren von Costa Rica aus viele Projekte, sowohl im politischen wie auch im beruflichen Feld, war es in Kuba, El Salvador, Nicaragua oder Guatemala.

Nun besuchten uns auch zwei seiner vier EnkelInnen. Wir mussten erkennen, dass sie nichts über die Geschichte von Antonio wussten, was ihn sehr schmerzte. Antonio’s Sohn, der 13 gewesen war als sein Vater ins Gefängnis kam, konnte den Verlust und die Misshandlungen seiner Mutter durch Militärs nie verwinden. Auch selbst musste er wöchentlich ins Hauptquartier und wurde verhört: ‚Was machte Dein Vater, wer sind seine Freunde?‘ Anstelle einer glücklichen Adoleszenz lebte er, wie tausende von Söhnen und Töchtern der kämpfenden Guerilla, mit Angst, Wut und Unverständnis gegenüber den Gründen für die Verfolgung und die Trennung von seinem Vater.

Erst viele Jahre später konnten sich Sohn und Vater wieder treffen, im Kontext von Exil und in Klandestinität, also weit von einer befriedigenden Kommunikationssituation entfernt. Der Sohn beschuldigte den Vater mit der ‚verdammten Politik‘ sein Leben zerstört zu haben und Antonio versuchte ihm seine Beweggründe dafür zu erklären, eine gerechtere Welt und eine bessere Zukunft. Beide dünnhäutig haben sehr gelitten. Später versuchte ich zu vermitteln, allerdings vergeblich. Bis zu seinem Tod hörte er nur die Schuldzuweisung des Sohnes - ein grosser Schmerz im Leben meines Liebsten.

Natürlich teilte ich seinen Schmerz, verstand die Reaktionen und erkannte einmal mehr, dass Krieg, Terror, Abbruch der Kommunikation und Schweigen menschliche Beziehungen zerstören, Wunden zufügen und verhindern, dass gegenseitiges Verstehen möglich wird. Ich fühlte mich hilflos, einsam und wütend an der Seite von Antonio, der niemals in die Opferrolle schlüpfte, aber es doch im doppelten Sinne blieb: Opfer des Staatsterrorismus und Opfer des Hasses seines Sohnes.

Dies ist meine Vorgeschichte, die den Traum und mein Projekt mit der dritten Generation verständlich machen soll. An den in Psychodrama-Gruppen strukturierten Forschungsprozess sind neben zwei Enkeln von Antonio, Emiliano und Analia, weitere 15 junge Menschen aus Maldonado, der Heimatstadt von Antonio beteiligt.

Meine zentralen Fragen dabei sind: Stimmt es, dass diese junge Generation gleichgültig und uninteressiert ist an der Geschichte ihrer Familie, und speziell über die Zeit der Militärdiktatur nichts wissen wollen? Was können die jungen Menschen in Uruguay zwischen 16 Jahren und 27 Jahren erinnern, wie stellen sie sich diese Zeit vor?

 

Der Beginn der Forschungsarbeit im Mai 2013

 

Als ich Emiliano fragte, ob er eine Gruppe von FreundInnen und Bekannten für diese Psychodrama Workshops organisieren könne, stellte er mir dieselbe Frage wie ich im Traum Antonio: soll ich nur in den Reihen der Frente Amplio suchen, oder auch EnkelInnen der Militärs? So breit als möglich, war meine Antwort. Allerdings bekannte er mir kurz darauf, dass es ihm unmöglich sei, auch auf der Seite der Militärs Kontakte zu suchen!

Wichtig in der Vorbereitung der Arbeit war Emilianos Mutter. Antonio hatte die Gewerkschafterin des Lehrer- und Magistratgremiums, die schon lange geschieden lebt sehr gern gehabt und sie ihn auch. Nun nach vielen Jahren als Geschichtsprofessorin in der Mittelschule pensioniert, ist sie für das Kulturzentrum von Maldonado verantwortlich und fungierte als Distributorin meiner Projektidee. Erstaunt genoss ich den herzlichen Empfang und das weitgestreute Interesse an dem Vorhaben, von verschiedensten Gruppen im Menschenrechtsbereich ebenso wie in politischen Gremien. Das war nicht immer so. Ich verstand das Misstrauen als Reaktion auf das 15-jährige Verbot während der Militärdiktatur, über die Tupamaros und politische Themen zu sprechen; aber auch als Weigerung, die Zeit des Terrors und der Traumas zu erinnern und durchzuarbeiten, die Wunden, Schmerzen und Verluste zu thematisieren und zu beweinen. Alle in Uruguay, auch die linken companeras/os, wollten vergessen!

Aber nun, nach 40 Jahren schien alles anders: Selbst die alten Kommunisten öffneten mir die Türen, auch sie wollten reden, das Schweigen brechen! Die Delegierte der weiblichen Ex-Gefangenen der Tupamaras gestand, dass sie in der Familie nie von ihrem Leben und ihrer Geschichte gesprochen habe, schon gar nicht über die erlittenen Folterungen! Der Hauptgrund für diese neue Offenheit scheint in der neuen Regierung zu liegen - Tupamaros in demokratischen Wahlen gewählt.

Im Stadthaus von Maldonado veranstaltete ich in Folge mit offizieller Unterstützung seitens der Regierung zweitägige Workshops mit der Methode des Psychodrama.

Die Resultate waren erstaunlich:

 

  • Alle Beteiligten wollten weitermachen und mehr von Psychodrama und ihrer eigenen Geschichte wissen.

  • Die meisten erkannten, dass sie durch das Schweigen in ihren Familien keinen Zugang zur Familien- und uruguayischen Geschichte hatten, und dass sie erst jetzt die Überlebenden das Bedürfnis verspürten, fragen zu wollen.

  • Viele konnten ihre körperlichen Beschwerden als psychosomatische Symptome und von ihren Eltern und Grosseltern übertragenes Leiden erkennen Z.B. verschwanden chronische Rückenschmerzen einer jungen Frau, die nie über den frühen Tod ihres Vaters in der Gefangenschaft weinen hatte können, als sie während der Gruppenarbeit in Tränen ausbrach. Alle möchten, dass in ganz Uruguay solche Workshops durchgeführt werden, und eine neue Art von subjektiver Geschichtsaufarbeitung im grossen Rahmen entsteht!

  • Ein grosser Teil der Gruppe sind FreundInnen geworden und haben verschiedene Aktivitäten im Bereich der Menschenrechtskommission organisiert, einer der jungen Männer hat eine regelmässige Radiosendung vom Samstagmorgen, mit dem Namen: VOCES (Stimmen) initiiert.

  • Alle unterstützen mein Projekt, an der Universität in Montevideo, zusammen mit anderen PsychodramatikerInnen, ein Masterprogramm Memoria y Psicodrama nach kubanischemVorbild aufzubauen (seit 6 Jahren existiert an der Universität von La Havanna die Maestria de Psicodrama y Procesos Grupales).

 

Diese Forschungsarbeit hat auch mich selbst emotional sehr mitgenommen: einerseits voller Glück über die erreichten Ziele, andererseits voller Trauer, dass Antonio das nicht erleben konnte. Auch die Frage im Traum, dieselbe die auch Emiliano stellte, löste sich auf: ohne es zu wissen, war die Tochter eines Folterers Teil der Gruppe, die in der Menschenrechtskommission engagiert ist.

Nach dem Workshop hatte sie mit ihrem Vater geredet, dieser jedoch kein Wort gesagt. Daraufhin informierte sie sich bei anderen Verwandten und erfuhr, dass: er nicht nur Soldat, sondern aktiver Folterer war, mitbeteiligt am Tod von zwei Tupamaros der Gegend Als wir bereits eine Vertrauensbasis aufgebaut hatten, ‚gestand‘ sie, dass ihr Vater ein ‚Milico‘ sei, jetzt pensioniert, aber jedenfalls auf der ‚anderen Seite‘ gestanden hätte. Zuerst reagierten alle, auch ich, überrascht, dann umarmten sie die Kollegin und meinten, es könne ja niemand was für die Taten der Eltern. Es scheint, dass nach 40 Jahren die Widerstände überwunden werden können, von der eigenen Geschichte ausgehend, werden die jungen Leute durch eine solche Arbeit zu ProtagonistInnen, die ihre Wurzeln und ihre Subjektivität suchen und aktiv damit umgehen wollen. Früher schale Begriffe wie Golpe de Estado (Militärputsch) oder Estado de Sitio (Ausgangsverbot) wurden durch die Inszenierung im Psychodrama lebendig, die Jungen kamen ihren Grosseltern näher, begannen zu verstehen. Viele fragten sich: weshalb habe ich nicht früher gesucht, gefragt?

Das bedeutet, der Augenblick ist gekommen, wo politische Psychologie, im Besonderen psychoanalytisches Psychodrama, einen wichtigen gesellschaftspolitischen Stellenwert bekommen könnte - nicht nur in Uruguay. Sei es in Chile, in Argentinien, in Brasilien - überall löst das Projekt Interesse aus. Dementsprechend gehen meine Gedanken in die Richtung, das vor 3 Jahren in Kuba gegründete Netzwerk Psicodrama SUR-SUR (das auch Palästina einschliesst), zu aktivieren und ein internationales Projekt daraus zu entwickeln. Ob die Universitäten für das geplante Master Programm: Memoria y Psicodrama (Gedächtnis und Psychodrama) zu gewinnen sind, wird sich in nächster Zeit zeigen.

 

ZUR POLITISCHEN PSYCHOLOGIE II

Exil - "Desexil”

In diesem Versuch, einige Diskussionsanregungen zur komplexen thematisierten Problematik zu formulieren, beziehe ich mich auf die juengsten Erfahrungen von Uruguayaner/innen und Argentinier/innen, die wahrend den letzten 2 Jahren von dieser Situation betroffen wurden; zum Thema des Exils auch auf die Arbeit von chilenischen Psychologinnen, die in Frankreich selber dieses Schicksal erleiden.
Vorerst mochte ich betonen, dass es ein grosser Fehler ware, das Exil und dementsprechend auch das Desexil zu psychologisieren oder gar zu pathologisieren; grundsatzlich bleiben diese Si-tuationen auferzwungene politische Lebensbedin-gungen, Resultat von Unterdriickung und Verfol-gung und historisch unausweichliche Etappen je-der Oppositionsgruppe, die nicht im Gefangnis er-mordet oder in die Klandestinitat untergetaucht ist. In diesem Sinne ist das Exil ein kollektives Schicksal fiir ein klassenbedingtes Ziel, und des-halb mussen die Folgen in erster Linie aus politi-scher und sozialpsychologischer Sicht analysiert werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt erfolgte fur das Individuum als Strafe fur seine oppositio-nelle Haltung dem herrschenden Regime gegenii-ber die Ausweisung aus dem Heimatland, verbun-den mit dem Verbot, friiher als bewilligt zuriickzu-kehren, und damit begann auch das individuelle Trauma. Im Unterschied zur Emigration, die aus individuell-okonomischen Griinden erfolgt, ist das Exil ein kollektiver politischer Prozess mit ei-ner zeitlich beschrankten, aber unsicheren Dauer.
Prinzipiell denke ich, dass fiir die Probleme des Exils keine psychologische Therapie "erfolg-reich" sein kann, die nicht den spezifischen histo-rischen und politischen Hintergrund - die Voraus-setzungen und Ursache des Exils - miteinbezieht.
Es kommen also einige Variablen mehr in die psychologische Diskussion und in die thera-peutische Situation, als dies der Fall ist bei nicht-exilierten Leuten. Unter anderem ist zu beriicksich-tigen, dass der Gruppenzusammenhang zwischen den Exilierten mehr als eine "normal" iibliche Bc-deutung hat; die Gruppe ist Reprasentant des Hei-matlandes und eminent wichtig fur die Identitats-behauptung der Individuen. Sie sollte nicht nur psychodynamisch angesprochen werden, z.B. in ihren regressiven Funktionen, als unterdriickende Mutterreprasentanz etc., sondern ebenso in ihrer realen konkreten, sozusagen ethnologischen Bedeu-tung. Eine Besonderheit der Exiliertengruppen ist der standige Wechsel ihrer Mitglieder; entspre-chend der politischen Situation im Heimatland kommen neue Leute hinzu, andere gehen, es gibt keine zeitliche Stabilitat. Dieses Bewegung hat meiner Ansicht nach vorwiegend eine progressive Funktion: standiger Informationszuschub, Aus-tausch von Erfahrungen mit Gruppen in anderen Landern; Neugier und Hoffnung werden geweckt, Apathie und Depression gemindert.
Im psychologischen Sinne und fiir den Einzel-fall kann diese Unstabilitat aber auch negative Folgen haben. Das grosste Problem scheint dasje-nige der Schuld zu sein; schuldig fiihlen sich dieje-nigen, die bereits langer im neuen Land sind (und sich mehr oder minder angepasst haben), den Neu-ankommlingen gegeniiber, und schuldig fiihlen sich fast alle den companeros/as gegeniiber, die nicht im Exil sind. Oftmals kommen iiberdies die Neuen mit Anklagen und Uberich-Einstellungen dieser Tendenz entgegen und bezichtigen die "Al-ten" als Opportunisten und Verrater. Selbst wenn dem so ware, geht es in erster Linie darum, die Strategic des Regimes zu analysieren, welche da-rin besteht, die Opposition im Exil zu schwachen und zu zersplittern.
Nebst der Schuld ist das wichtigste psychologische Problem, das alle im Exil betrifft, dasje-nige der Trauer und des Verlustes. Es ist nicht nur die zeitlich bedingte Trennung von den Angehori-gen und der Heimat, es ist der reale Verlust vieler Freunde, der verarbeitet werden muss. Dies er-schwert natiirlich die notwendigen existentiellen Anpassungsleistungen, die die Exilierten machen
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mussen (Arbeit suchen, die neuen Sprachen lernen, den Kulturschock iiberwinden, Wohnung suchen, Aggressionen und Fremdenhass abwehren, um nur einige davon zu nennen). Im individualpsychologi-schen Bereich ergeben sich als haufigste Abwehr-mechanismen des Traumas die bekannten Formen der Isolierung und Abspaltung (Abkapselung in die Gruppe, Autismus, Zuriickweisen der neuen Um-gebung), Idealisierung der Heimat, Entwertung des neuen Landes, Agieren (meist im politischen Feld), paranoide Reaktionen (nebst dem adaqua-ten Bewusstsein der politischen Kontrolle), De-pressionen und Melancholic bis zu Selbstmord.
Grundsatzlich stellt sich die Frage nach der Kanalisation der aufgestauten Aggression. Dass es sich um berechtigte Gefuhle der Wut und des Hasses handelt, bestreitet wahrscheinlich nur der Aggressor selber, in unserem Fall die ver-gangenen Militarregimes und ihre Komplizen in der gegenwartigen Regierung. Allzugern mochte die Reaktion ihre Gegner als neurotische "Ele-mente" neutralisieren, in psychiatrische Kliniken verstauen oder in Verhaltenstherapien sozial an-passen, d.h. ihnen den Mund stopfen und die Forde-rung nach Gerechtigkeit verstummen lassen. Im Ge-gensatz dazu geht es darum, diese Emotionen in ih-rem progress!ven Kern lebendig zu erhalten und zu politisieren, zu "kollektivisieren". Hierbei ist fiir das Individuum naturlich seine politsche Ideolo-gie und seine Zugehorigkeit zu einer Organisation, die Zukunftperspektiven erarbeiten und die vergangenen Erfahrungen analysieren kann, von entscheidender Bedeutung. Selbstverstandlich meine ich damit nicht, dass politische Aktivitat sozusagen eine Garantie gegen psychisches Leiden ware, oder dass eine Einsicht in dem gesamtpoliti-schen Zusammenhang des Exils psychologische Probleme ersparen wurde. Sicher zeigen aber die Erfahrungen, dass eine enge Interdependenz zwi-schen dem Grad des politischen Bewusstseins und der Reaktion auf die individuellen Probleme im Exil besteht. Dies wissen naturlich auch diejeni-gen Herrschaftsfunktionare, die die politische Opposition annullieren wollen. So wie auf brutale direkte Weise ein grosser Teil der Linken in La-teinamerika umgebracht oder durch die Folter schwer geschadigt wurde, so soil auch der exi-lierte Teil auf "sanfte" Art und Weise politisch beseitigt werden. Wir konnten den psychologi-schen Aspekt des Fluchtlingswesens und der Asyl-/Exilpolitik, wie sie in den meisten Landern geplant wird, unter dem Blickpunkt der repressi-ven Toleranz verstehen, und wir kennen nur allzu gut ihre Auswirkungen: Dankbarkeit wird gefor-dert, Kampflust geschwacht, wenn nicht krimina-lisiert. Dazu kommt die Verfiihrung der hochent-wickelten Konsumwelt, die regressive Tendenzen fordert und Kompensationen aller Art anbietet, vor allem fiir die Menschen aus sogenannten Dritt-
welt-Landern. Und bekannterweise sind es ja die reichen Lander, eben gerade diejenigen, die ihren Wohlstand der Ausbeutung der Drittweltlander verdanken, die Refugium anbieten!
Im Individuum soil Verwirrung gestiftet werden, die existentiellen Bedurfnisse und die Vergangenheit sollen vergessen werden, soziale Hilfe wird als Versohnung und als Erpressung an-geboten und kann im Einzelfall eine "Double-bind" Situation und den Zerfall der psychologi-schen Integritat des Individuums herbeifuhren.
Es gabe hier viel zu diskutieren, fur dies-mal sei noch ein Ausspruch eines Uruguayaners zi-tiert: Lieber hungrig und mit falschen Papieren auf der Flucht sein als in die Abhangigkeit des So-zialfiirsorgestaates zu geraten!
DESEXIL:
Der Begriff stammt vom uruguayanischen, Schriftsteller Mario Benedetti und umschreibt den komplexen Prozess des "Zuriickkehrens", "Heimkehrens", "Aus-dem-Exil-entlassen-wer-den". (All dies sind Umschreibungen in Anfiih-rungszeichen, weil allzu bewusst ist, dass sich der Ausgangspunkt des Exils inzwischen vollig gean-dert hat.) Im Falle von Uruguay und Argentinien ist das Desexil eingeleitet durch eine Anderung der Politik, die die gleichen Machthaber und oko-nomischen Interessengruppen vollziehen, die da-mals das EXIL der Opposition erzwangen. (Im Falle von Uruguay waren es rund 1/2 Million Menschen, also der fiinfte Teil der Bevolkerung, die ausgewiesen wurden). Es ist demnach kein Triumph des Volkes, keine Revolution, keine grundsatzliche Umstrukturierung der politischen Verhaltnisse, die das DESEXIL ermoglichen. Vielmehr ist es ein "Geschenk" der biirgerlich-liberalen Regierung; die Tvire wird dem verlorenen Sohn/Tochter paternalistisch geoffnet, die Amnesic ist ein einseitiges Verzeihen. Auch dies nur dem Schein nach, derm die Bedingungen an die Riickkehrer sind klar definiert: keine Opposition gegen die Strukturen der Wirtschaft und Politik, keine Justiz an den Militars, Kontrolle iiber alle politischen Aktivitaten. Fiir viele politisch enga-gierte Exilierte sind die Auswirkungen des Dese-xils schwieriger und komplexer als es das Exil war. Damals erzwang der politische Feind die Ausweisung, und das Bewusstsein, selber wichtig und fiir die Machthaber im Innern des Landes ge-fahrlich zu sein, befriedigte narzisstische Bedurfnisse und kompensierte die alltaglichen Probleme. Nun wird jedes Individuum vor eine Ent-scheidung gestellt; der Feind ist verschwommen, Fantasien mussen sich mit der Realitat konfrontie-ren. Ohne Zweifel hat sich die Hoffnung des Des-exils wahrend den mehr als 10 Jahren Exil in je-
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dem Individuum als Ort intensivster Erwartungen cingenistct. In jcdem Exilicrtcn lobt ein "Held und Martyrer", die Leiden und Schwierigkeiten miis-sen kompensiert werden, und die Traume und Hof f-nungen auf die Ruckkehr sind nebst den rationalen politischen Inhalten aus tiefen infantilen Quellen gespiesen. Ohne Zweifel waren alle ohne Zogern zuriickgeeilt, wenn ... aber statt Siegesgefiihle kommen Scham und ohnmachtiger Zorn hoch, die bittere Frage liegt vielen auf der Zunge: Lohnte sich der Kampf, haben wir versagt, war alles um-sonst?
Narzisstische Krankungen iiber die offen-sichtliche momentane Niederlage, erneutes Be-wusstsein iiber die Langwierigkeit des Kampfes, iiber die ungleichen Machtverhaltnisse und die Schwierigkeit des Wiederaufbaus der linken Or-ganisationen dampfen und erniichtern die Eupho-rie des ersten Momentes, bei vielen losen sie De-pressionen und Resignation aus; viele zogern ange-sichts des Elends und der Armut mit der Ruckkehr. Der jahrelange Kommunikationsabbruch und die physische Trennung von der Heimat liess diese zum fremden Land werden, und die Nostalgic ver-zerrte meistens noch das ohnehin schon entfernte Bild der Realitat. Praktisch alle Exilierten mus-sen sich damit abfinden, iiberall, selbst in der al-ten Heimat, fremd zu sein.
Im emotionalen Bereich muss die verlorene Kindheit betrauert werden, gleichzeitig mit dem Akzepticren der Endlichkeit des eigenen Lebens. Was weiterlebt und neue Formen im Exil angenom-men hat, ist die Utopie, der Entwurf fiir cine ge-rechtcre Welt und menschlichcre Gesellschaft.
Die Welt ist zusammengeschrumpft, internatio-nale Vernetzungen haben sich ergeben; nebst der okonomisch verheerenden Abhangigkeit zwi-schen den lateinamerikanischen Landern und den wirtschaftlichen Monopolen enstand an der Basis eine Kommunikation und Solidaritat, die immer-hin auch politisch ein Triumph ist.
Dieser Artikel versteht sich als Teil da-von, und ich hoffe, in zukiinftigen Diskussionen die fokussierten Themen vertiefen zu konnen!

Literatur:
Mario Benedetti: El Desexilio, Madrid 1985 (B Pais)
Ana Vasquez u.a.: Reflexiones Sobre El Exilic Y sus repercusiones psicologicas, internes paper 1978 Barcelona
Verschiedcne Autorinnen: Las Mujeres Del Cono Sur Escriben; Buenos Aires-Stockholm, (Nordan comunidad Edit) 1983
M.  Vignar,  H.  Amigorena:  Entre le  Dehors  et  le  dedans: L'instancc Tyranniquc; 1977 (Critique)
Verschiedcne Autoren: Un Continent Torture; Publication der AICT (Association centre la torture) 1984
Paul Parin: Der Widerspruch im Subjekt; Syndikat 1978
Mario Erdheim: Die Tyrannische Instanz im Innern; Journal fur Geschichtel982
Silvia Amati: Quclquos Reflexions sur la torture pour Interduire une Discussion Psychoanalytique; Psyche 31, 1977

 

Traumatisierende Situationen und feministische Arbeit mit Frauen in Zentralamerika

von Dr. phil. Ursula Hauser; Psychoanalytikerin; San Jose, Costa Rica

 

 

I.  Einführung

 

Ich beschränke mich in meinem Vortrag auf die Arbeit mit politisch organisierten Frauen in El Salvador, die z.T. durch ihre Arbeit in der FMLN extrem traumatisierende Situationen der Folter an sich selber oder an Familienangehörigen erlebt haben. Dies auch als Einführung in das konkrete Frauenprojekt, das ich am Nachmittag vorstellen werde.
Selbstverständlich wäre viel zu sagen über traumatisierende Situationen für Frauen in allen zentral-amerikanischen Ländern, da sie einen ähnlichen kulturellen, sozio-politischen und auch historischen Kontext erleben, der Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen gesellschaftlich als 'normal' erklärt, bagatellisiert oder heuchlerisch in verschleiernde Formen der Fürsorge verpackt. In anderen Worten: Inzest, Vergewaltigung, Erniedrigung, Entmündigung, Verachtung; physische und psychische Gewalt an Frauen ist ebenso Teil der machistisch geprägten Realität, wie es die Verleugnung und Unsichtbarmachung der Arbeitskapazität und der kreativen Kraft der Frauen ist. Ich möchte heute keine theoretische Abhandlung über 'Machismos' oder über den Begriff des Traumas geben und hoffe, vermeiden zu können, dass ich in die Rolle der 'Folter-Spezialistin' oder der Trauma-Theoretikerin' gedrängt werde, was einer perversen und zynischen Auszeichnung entsprechen würde, vor allem in Bezug auf die heutige Tagung hier in Zürich, die ja Brücken bauen will und Solidarität verspricht in einem politisch engagierten Zusammenhang, der dem CSS seit seiner Gründung zur Grundlage dient, und der mein persönliches Leben und Arbeiten in Lateinamerika bestimmt.
Wir wissen, dass jeder Krieg traumatisierend wirkt und menschliche Spuren bis in die Zweit- und Dritt-Generation hinterlässt. Vor allem sind dies psychische Spuren, psychosomatisch bedingte Krankheiten, früher Tod, Depression, Selbstmord, Beziehungsstörungen und alle Symptome die unter dem Namen des 'post-traumatischen Stress-Syndroms' bekannt sind. Die Frage müsste anders lauten: Ist es möglich, dass Menschen, die jahrelang Krieg mit Mord und Totschlag erlebt haben keine schweren psychischen Schäden aufzeigen? Ist das Grauen, die Gewalterfahrung ohne zerstörerische Auswirkungen auf die menschliche Psyche überhaupt zu überleben? Meine Erfahrung mündet in die Verneinung dieser Fragen, selbst da, wo der Zusammenhang in einer politischen revolutionären Organisation möglich war und wo ein politisches Bewusstsein vorherrschte. Extrem traumatisierende Situationen zielen darauf ab, das psychische Abwehrsystem des Ichs eines Menschen zu zerstören, so dass das Individuum einen Identitäts-Zusammenbruch erlebt, was zu Tod oder schweren Psychosen führen kann. Alle traumatischen Situationen brechen als extreme psychische Belastungen in die individuelle Geschichte ein, nie wieder wird es so sein wie 'vorher'. Es gibt ein 'vorher1 und ein 'nachher', die Lebensgeschichte - auch wenn sie als ein konfliktreicher Prozess verstanden wird - wird durch traumatische Situationen zerstört und gleichzeitig abrupt umgeformt. Das alte Beziehungsnetz fällt zusammen, die psychischen und sozialen Möglichkeiten der Kommunikation werden bis zur totalen Isolierung eingeschränkt. Menschliches Leiden stößt durch Folter, Gefängnis, Exil an seine Grenzen. Es ist keine Konfliktsituation, die gelöst werden könnte, kommunizierbar wäre; die Existenz hängt zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Schreien und Schweigen, zwischen Wut und Hass, Leben und Tod. Die Entfesselung von Hass- und Rachegefühlen lassen Menschen zu Monstern werden, was heute nicht mehr zu verleugnen ist. 'Wer Folter erlebt hat, kann nie mehr heimisch werden in dieser Welt' sagte ein Überlebender des Holocaust.
Wie viel Angst, Schmerzen, Ohnmacht und Wut kann ein Mann, kann eine Frau ertragen? Wie kommt es, dass der eine überlebt, die andere stirbt in derselben Situation? Welches sind spezifische traumatische Situationen für Frauen? Und wo setzen die Strategien der weiblichen Identitäts-Zerstörung ein?
Die Familie, der 'mächtige Ort der Frauen' als Mütter, ist in Zentralamerika zumeist, und oft ausschließlich, frauengeprägt. Die Männer sind da ebenso marginalisiert, wie es die Frauen von der öffentlichen Macht sind. Großmütter, Mütter, Tanten, Cousinen, Schwestern und weibliche Angestellte ziehen gemeinsam die Kinder auf und ernähren die Familien. Auf ihnen lastet der ganze Druck der existenziellen menschlichen Versorgung, ihre Präsenz prägt die Kinder ebenso wie die Absenz der Väter und Männer. In Krisenzeiten wird der Druck stärker, weil zuerst die Frauen am Arbeitsplatz entlassen werden, was neue Abhängigkeiten und Probleme schafft. Prostitution, auch von Kindern, ist oft der einzige Ausweg vor Hunger und Tod; vermehrt gibt es Kindermörderinnen. Die zentrale Stellung der Frauen in der Familie, und ihre Macht als Sozialisations-Agentinnen münden in das fatale Beziehungsmuster der Ambivalenz- und Abhängigkeits-Dynamik ein. Die Beziehung zur Mutter oder zur Großmutter ist für beide Geschlechter von der Kindheit her geprägt von Liebe und Hass, von Macht und Ohnmacht, von Konflikten um Abhängigkeit und Autonomiestreben, von Identifikation und Trennung. Die Frauen werden in dieser Rolle verantwortlich gemacht für das Wohl der Familie und verinnerlichen von klein auf dieses gesellschaftliche Mandat als 'natürliches' Schicksal. Und die katholische Kirche tut das ihrige dazu, die Last der vielen Kinder als Geschenk Gottes darzustellen, die Arbeit als Lohn, das Leiden als Lust, und Gewalt als Schicksal zu vertuschen. Die Frauen haben kein Recht auf Selbstbestimmung, auf ihre Sexualität, auf ihren Bildungshunger, auf ihre Unabhängigkeit. Ihre Persönlichkeitsstruktur wird in der frauenspezifischen Sozialisation geprägt von der Verdrängung sexueller und aggressiver Triebimpulse, Schuld und Schamgefühle machen sich manifest in Form von Selbstbestrafungs-Tendenzen, Minderwertigkeitsgefühlen, Selbsterniedrigung.
Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Weshalb können die Frauen ihre Stärke und ihre Fähigkeiten nicht zeigen und verteidigen?
In der Folter sind die Peiniger Männer, die Opfer Frauen. Gewalt an Frauen zielt meistens auf ihre Sexualität ab. Die unterdrückte Sexualität nimmt sadistische und perverse Formen an, geschützt durch die Uniform der Soldaten oder die Privatsphäre der Familie. Soll Rache genommen werden an den starken Müttern? Müssen die Frauen - und immer auch die Kinder - herhalten, weil gegen die unterdrückende dominierende Macht im sozialen, politischen Feld nicht rebelliert werden kann?
Frauen sind verwundbar in ihrer Intimität, ihrer Sexualität und in der Mutterschaft. Erniedrigung, Demütigung wird mit Waffengewalt als äußere Überlegenheit erzwungen, die innere Abhängigkeit kompensiert. Der viel gehörte Spruch, selbst von Richtern: 'Es sind ja doch alles nur Huren', oder 'sie hat die Vergewaltigung selber provoziert', zeigen den versteckten Frauenhass offen auf. Auch im meistgehörten Fluch- und Schimpfwort; 'hijo/hija de puta1 (Hurensohn/-tochter) erkennen wir die Verachtung, die sich nicht nur bei Polizei und Militärs, sondern leider auch in den Reihen der 'eigenen Compañeros' eingenistet hat. Ebenso wie das Schweigen, Dulden, Verzeihen die typischen Reaktionsmuster der Frauen sind. Die Sozialisierung zielt darauf hin, dass die Frau für andere lebt und arbeitet, ohne an sich selber zu denken. Deshalb nimmt sie auch des anderen Schuld ab, lastet sich selber die Verantwortung auf, nimmt den anderen in Schutz, ängstigt sich vor ihrer eigenen Wut und ihren Wünschen, delegiert die Aggressionen an das männliche Geschlecht, lässt sich fremdbestimmen und ist ihrem eigenen Geschlecht gegenüber oft feindlich eingestellt.


Zusammenfassend müssen wir aus dieser Einleitung den Schluss ziehen, dass 'traumatische Situationen1 für Frauen in Zentralamerika Teil des 'normalen' Alltags sind und diesen nur auf dramatische Weise verschärfen. Frausein bedeutet im sozio-kulturellen Kontext der momentanen politischen Verhältnisse:
-    minderwertig zu sein
-    ausgebeutet sein
-    unsichtbar gemacht im öffentlich politischen und kulturellen Machtbereich
-     mit Gewalt der männlichen Ordnung des Machismos untergeordnet sein
-     als Gratisarbeiterin ausgenützt in der Familie und marginal angesiedelt im Produktionsprozess, ohne legalen Schutz als Arbeiterin
-    gedemütigt im Recht auf die Bestimmung über ihren eigenen Körper (Abtreibung bleibt illegal, selbst bei Vergewaltigung)
-    'innerlich kolonialisiert' durch die katholische Kirche
-    entfremdet ihrer Sexualität und kreativen Energie
-    infantilisiert, pathologisiert und kriminalisiert, wenn sie diese Schranken durchbrechen will 
-    Gewalt an Frauen ist normal, Straffreiheit für Vergewaltiger ebenfalls; und
-    mit den neuen Amnestie-Gesetzen für die Militärs - ist auch Straffreiheit für Folterer legalisiert.

 

II. Was tun?


Wir wissen: wo Unterdrückung ist, ist auch ein latenter Widerstand. Auch die Politiker der Postmoderne wissen das, und außerdem sind sie auf die Mitarbeit und die Identifizierung der Frauen mit ihrem neoliberalen Programm angewiesen. Zum Beispiel werden die Frauen als 'treibende Kraft' in die so genannte 'Entwicklungspolitik' der bürgerlichen Pseudodemokratien eingespannt, was einer zynischen Lüge gleichkommt, da kein einziges Land der 'südlichen Welt1 sich in diesen Zeiten 'entwickeln' kann, es sei denn weiterhin zu Gunsten der reichen Länder. Die Internationale Finanzpolitik, unter anderem der Weltbank, sowie der Vatikan (Opus Dei) fördern frauenspezifische Programme, die ihrem Zwecke nach aber die traditionelle Rolle der Frauen unterstützen, weiterhin arbeitsausbeuterisch funktionieren (Maquilas) und außerdem die Organisierung der Frauen an der Basis kontrollieren und schwächen wollen (Mikro-Projekte). Leider wurden in den letzten 10 Jahren auch große Teile der Frauenbewegung von diese Politik vereinnahmt, wodurch das subversive Potential feministischer Arbeit geschwächt wurde. 'Das persönliche ist politisch', die alte Devise der internationalen Frauenbewegung behält ihre Brisanz in Zentralamerika, besonders dort, wo das patriarchalisch-machistische System auch in den linken revolutionären Organisationen funktioniert hat, auf Kosten der Frauen und ihrer politischen Macht- und Entscheidungsstellungen.
Es geht also in erster Linie darum, aufzuzeigen, dass Gewalt gegen Frauen mit ihrer traumatisierenden Konsequenz eine strukturelle Legitimierung erfährt im patriarchalisch-christlichen Gesellschaftssystem, die alle Schichten betrifft, die aber selbstverständlich viel dramatischere Auswirkungen hat bei der Mehrheit der armen Frauen, die schutzlos in einem ihnen feindlich gesinnten Staatssystem leben. Da sie alle aber von ihrer Kindheit an diese Realität verinnerlicht haben, zeigt sich ihre Unterdrückung in der von Staat und Kirche geduldeten Art und Weise, nämlich in unbewusst ausgedrückten Symptomen: psychosomatische Krankheiten, Apathie und Depressionen, in Gewalt gegen Kinder, besonders gegen Mädchen, wodurch der Teufelskreis wieder geschlossen ist. Wenn die Frauen Zugang zur Krankenkasse oder sonst wie Möglichkeiten zur ärztlichen Versorgung haben, werden sie medikamentiert, mit Psychopharmaka voll gestopft von den Ärzten, als Leidende gelobt und gesegnet von den Priestern. Nach ihrer Geschichte und nach ihrem Namen fragt niemand; sie sind nach den Worten einer Frau 'el horno para el pan' (der Ofen für das Brot).
Umso weniger können sie sich selber nach ihren Wünschen fragen, denn ihre Lebensgeschichte ist normalerweise von Gewalt und Ausgeschlossen-Sein aus dem politischen und kulturellen Leben gezeichnet, der Analphabetismus ist bei Frauen weitaus größer als bei Männern. Wer bin ich, was will ich? Solche Fragen existieren nicht, außer dort, wo sie auf die Kinder delegiert werden. Frauenleben ist direkt verknüpft mit dem Kampf ums Überleben, Geschichte heißt im Augenblick existieren. Zukunftsperspektiven oder Vergangenheitserlebnisse sind im Schweigen oder Vergessen inhaltslos, die Energie wird von der Sorge um das Weiterleben aufgefressen.
Die Politik des Vergessens, der Straffreiheit, wie sie in den letzten Jahren in Lateinamerika eingeführt wurde, zementiert diese Verdrängung und verhindert die aktive Bewusstseinsnahme über den geschichtlichen Kontext, in dem die Frauen ihre Identität bilden. Es ist ihnen auch kein Vergleich möglich, kein Fragen, Hinterfragen, Zweifeln. Wut und Trauer sind eingefroren, wortlos, individualisiert und privatisiert, obwohl tausendfach miterlebt. Erst die Frage nach dem weshalb? kann Gewalt als menschen-gemachtes Handeln, nach menschlichen Ursachen und Konsequenzen kontextualisieren. Die meisten Frauen in Zentralamerika nehmen den Krieg ebenso wie Geburt und Tod als Gottes Gnade und Wille, als Schicksal hin, das nicht hinterfragt werden soll.
Diese Haltung gibt im individuellen Leben einen 'sekundären Krankheits-gewinn1: vorerst muss keine Trauerarbeit geleistet werden; die Unmündigkeit verlangt nach keiner Verantwortung, das passive Hinnehmen riskiert kein erneutes Leiden, aber verhindert dieses auch nicht. Die Frage was tun? ist bereits ein Denken, das den meisten Frauen aus äußeren und inneren Gründen verwehrt bleibt. Sie muss also von Außen an sie herangetragen werden, aber wie?
Die Frauenorganisation M.A.M. arbeitet seit 5 Jahren intensiv daran, meine Arbeit soll ein Beitrag dazu sein. Ebenfalls ist die kritische Diskussion über die in den letzten Jahren in Lateinamerika und in Europa entstandenen Projekte und Zentren für 'Folteropfer' nötig, über Strategien und Zielvorstellungen ebenso wie über psychotherapeutische Methoden, besonders da, wo anstelle der politisch-ideologischen Reflexion die Illusion einer wissenschaftlich-objektiven humanistischen Arbeit gefördert wird. Allerdings ist dies nicht der Rahmen auf diese Problematik einzugehen, eventuell kann dies am Nachmittag geschehen.

 

III  Psychodrama-Gruppenarbeit in der Frauenorganisation M.A.M. (Melida Anaya Montes) in El Salvador
 

Im Mittelpunkt der Arbeit steht das subjektive Erleben und Verstehen der eigenen Geschichte durch die psychoanalytisch orientierte Arbeit des ERINNERNS, WIEDERHOLENS und des DURCHARBEITENS.
Dies mit der Methode des Psychodramas, wobei sich das Thema einer Frau als PROTAGONISTIN aus dem Gruppenprozess herausschält. Die anderen Gruppenmitglieder sind Teil des Prozesses als Hilfs-Ichs, werden in verschiedene Rollen gewählt oder bleiben im Chor Trägerinnen des kollektiven Gedächtnisses. Alle Frauen nehmen aktiv teil am Geschehen und identifizieren sich je nach ihrer eigenen Geschichte mit dem Thema. Nach jedem Psychodrama, das sich als Stegreif-Theater aus der Arbeit der Protagonistin mit der Psychodrama-Leiterin entwickelt und wichtige Momente der Katharsis, der emotionalen Gefühlsäußerung durchläuft, machen wir zusammen eine Prozessanalyse, damit jede Frau das Erlebnis, und ihren Anteil daran, versteht. Dies ist ein wichtiger Teil der Gruppendynamik, denn im Verbalisieren erst wird der spontane Ablauf der Szenenfolge bewusst und bekommt seinen Sinn im Gruppengespräch. Dann auch wird die latente Gruppendynamik durch die Rollenwahl manifest, was in dieser Gruppe dazu führt, Ansätze einer Organisationsanalyse machen zu können. Das Individuelle wird in den Gruppenkontext gestellt, die eigene Geschichte gliedert sich in die Sozialgeschichte ein und es wird möglich, kulturelle und geschlechtsspezifische Analysen zu machen. Die Psychodrama-Leiterin hat dabei die Rolle einer Katalysatorin; sie versucht, sozusagen als Dramaturgin den Einfällen der Protagonistin zu folgen und ihr zu helfen, sie in Szene zu setzen. Während den kathartischen Momenten bekommt sie eine direkte therapeutische Funktion und gewährt der ganzen Gruppe Möglichkeit zur Gefühlsäußerung und zur spontanen gegenseitigen Unterstützung. Ohne hier im Detail auf die vielschichtige und komplexe Methode des Psychodramas einzugehen, will ich darauf hinweisen, welch wichtige Funktion dabei der Kreativität, des Spiels, der Körperarbeit und des Humors zukommt. Durch den Ablauf des improvisierten Geschehens gibt es immer wieder Augenblicke des gemeinsamen Lachens, des Staunens und der Möglichkeit, Trauer, Wut und Freude zu vermischen, Hass und Liebe nebeneinander zu erleben, Ambivalenzen auszuhalten und als notwendige Widersprüche zu erkennen. Konfliktsituationen werden auf ihrer individuellen biographischen Perspektive neu beleuchtet und bekommen im mitgeteilten Prozess neue Dimensionen. Rigide Haltungen können zum Teil aufgelöst werden, der Rollentausch ermöglicht eine Erweiterung des eigenen Handlungs- und Aktionsbereiches und intensiviert die Identitätsbildung. Frauen bekommen Männerrollen, Mütter werden zu Kindern, Töchter identifizieren sich mit den Großmüttern, Götter und Teufel kommen auf die Bühne und der Mythos des 'Gut und Böse'-Schemas wird aufgebrochen. Im Psychodrama versuchen wir, die Symbolik hinter den Körpersymptomen zu verstehen, die Verbindung herzustellen zwischen Körperausdruck und Sprache. Während des Krieges war es unmöglich, therapeutische Prozesse einzuleiten, es musste geschwiegen, geleugnet, versteckt werden. Das Überleben stand im Vordergrund und forderte seinen Preis im psychischen Leiden und der Isolierung. Jetzt, in der Phase der so genannten Friedenszeit ist es möglich und notwendig, Geschichte aufzuarbeiten und sich gegen das Vergessen zu wehren. Was ist geschehen? Ist präventive Arbeit, auch im politischen Sinne, möglich?
Das psychosomatische Symptom, das bei Frauen in Form von körperlichem Leiden im Vordergrund steht, hat seine Sprache und will entschlüsselt werden nach seinem Ursprung und seiner Funktion. Der Körper leidet, damit das Unaussprechbare nicht verbalisiert werden muss. Schamgefühle blockieren das Wort, angelernte Selbstbeschuldigung lässt verstummen, privatisiert Gewalt. Ich leide an meinem Körper und bleibe im Kerker, geschützt bis dahin, wo die Haut die Grenze zum DU, zum WIR, zur WELT bedeutet.
Die Frauen leiden an Migräne, Magengeschwüren, Allergien, Menstruationsbeschwerden aller Art. Dahinter verstecken sich lebensgeschichtlich bedingte Depression, Angst, Wut, Rebellion. Frau darf körperlich und psychisch leiden, aber nicht fragen WARUM? Der Wahrheit soll Frau nicht auf die Spur kommen, nur so bleibt sie entfremdet vom Realitäts-Zusammenhang ihrer Geschichte und kann, muss sich dementsprechend auch nicht zum bewussteren Handeln entscheiden. Frauen haben gelernt, auf ihre Umwelt zu re-agieren, aber nicht, sich selber als handelnde Subjekte zu begreifen.
Im Psychodrama soll das Versteckte zum Vorschein kommen, das Abgewehrte wird erscheinen als Schreckgespenst, und die Abwehrmechanismen werden dargestellt als Schutzmauern.
Welches sind die gefürchteten, schrecklichen Szenen? Hinschauen oder sich abwenden? Die Erfahrung zeigt, dass die traumatischen Erlebnisse zum Vorschein drängen, sie wollen vergessen werden und zwingen doch mit Kraft - eben oftmals durch körperliche Symptome - zur Mitteilung, wollen aus dem Tabu des Geheimnisses entweichen. Dies trifft nicht nur auf extrem-traumatische Erlebnisse im Krieg zu, wir kennen diesen Konflikt im allgegenwärtigen Erleben des neurotischen Leidens, dass 'das Unbehagen in der Kultur' privatisiert, verpönte Gedanken und Gefühle zurückdrängt in schamerfülltes Schweigen, dass das Fremde ausgrenzt und das Eigene idealisiert, das die wahre Geschichte zur akzeptierbaren Legende verwandelt.
Das eigene Leiden setzt die Grenze, wo dieses Schweigen nicht mehr ertragbar ist, wo der Schrei befreiend die Stille zerreißen will, wo jene Erfahrungen, die sich in Angst und Entsetzen versteinert haben, erinnert und festgestellt werden wollen. Damit, und weil die damalige Ohnmacht in eigenes Handeln übersetzt werden kann als Protagonistin, wird jenes Tabu, das Komplizenschaft bedeutet mit dem Angreifer, gelüftet, wird Gewalt in den lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt, und werden eigene Aktionsmöglichkeiten erprobt, die bis anhin verboten waren.
Im Psychodrama wird auch die Seite der Folterer, der Lustmörder, des Monströsen elaboriert; es werden demnach die eigenen verdrängten aggressiven Seiten, auch sadistische Impulse, erlebt. Im Rollentausch wird die komplizierte Dynamik zwischen Opfer und Täter durchgearbeitet, und immer wieder wird manifest, wie sehr die aktiven aggressiven Impulse der Frauen, ebenso wie die sexuellen Wünsche, blockiert sind. Wir stützen die Abwehrmechanismen, indem sie von Hilfs-Ichs dargestellt werden, und machen sie zur gleichen Zeit flexibel, weil sie vermenschlicht werden und beweglich sind. Sie helfen, die traumatischen Szenen zu wiederholen, jetzt in einem neuen Kontext, mit Hilfe der ganzen Gruppe, womit das Schreckliche zwar nicht seine Kraft verliert, wodurch aber die Protagonistin und sekundär auch die anderen Frauen die Gewalt-Erfahrung in einen sozialen und geschichtlichen Kontext bringen, der erst die Diskussion erlaubt und damit Denken und Handeln anstelle des ohnmächtigen Ausgeliefertseins ermöglichen. Damit ist noch keine politische Handlung erreicht, der Krieg kann damit nicht verhindert werden, aber die subjektiven Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Realität werden vergrößert. Wo Stille, Scham, Depression, Weinen, Zusammenkauern und sich-Verstecken das 'normale' waren, kann im sicheren Rahmen der Gruppenarbeit die abgewehrte Gefühls- und Vorstellungswelt hochkommen. Eingefrorene Energie wird losgelöst, versteinerte Gesichter können ihren Hass und ihre Trauer zeigen, in den kathartischen Erfahrungen werden Emotionen bewusst, die im Krieg oder schon vorher als Kind und als adoleszentes Mädchen verdrängt werden mussten. Die Hilfs-Ichs und die Therapeutin helfen dabei, das Szenarium des Intimbereichs zu erforschen, um neue Wege zu suchen, um alte Muster zu durchbrechen.
Wichtig erscheint mir, die aktuellen Traumen der Kriegserfahrung in den Lebenszusammenhang zu stellen, damit die Frauen ihre Geschichte als Kontinuität erleben und sich selber in ihrer einzigartigen Identität erfahren können. Das Ziel der therapeutischen Arbeit ist es unter anderem, ihre Neugier über sich selber zu wecken, ihre eigene Frauengeschichte in den sozio-kulturellen Zusammenhang zu stellen, sie mit derjenigen ihrer Mutter, der Großmutter, der salvadorenischen Geschichte zu verbinden. Im Gruppenprozess wird das Einmalige als Teil der Vielfalt der Frauenleben erfahren, und zugleich wird das Bewusstsein über die gemeinsam geteilte, mit-geteilte Geschichte der salvadorenischen Frauen erarbeitet.
Wo vorher bereits jahrzehntelange politische Erfahrung und sozialer Kampf existiert hat, wird durch diese Gruppenerfahrung noch eine neue Dimension eröffnet, diejenige der komplizierten subjektiven Welt, die es ermöglicht, selbst heute in der hoch technologisierten Realität Geschichte immer wieder als von Menschen gemachte soziale Kämpfe und Erlebnisse zu erfahren, und nicht als vorgegebenes 'Schicksal' passiv zu erleiden. Diese Erkenntnis macht das Leben nicht leichter, ist aber notwendige Voraussetzung für feministische politische Arbeit, die die Veränderung der sozialen Ungerechtigkeit zugunsten einer menschlicheren Gesellschaft nicht nur auf die ökonomischen Verhältnisse reduziert und die politische Organisation nicht als starre Institution akzeptiert.
Jede Frau soll sich immer mehr als wichtiger Teil derselben erkennen und das eigene Leben als Protagonistin ihrer konkreten Realität, die veränderbar ist, verstehen. Im Psychodrama erkennen wir, dass psychosomatische Symptome verschwinden und auftauchen können, wenn wir sie in den lebensgeschichtlichen Kontext, und in die psychische Dynamik von Unbewusstem und Bewusstsein stellen können. Das sind die Hoffnungsschimmer, die uns dabei helfen, gegen die Strategie der äußeren dominierenden Mächte, die menschliches Leiden als biologisch oder genetisch zu definieren versuchen, und die das Vergessen propagieren, anzukämpfen. Diese erlösenden Erfahrungen helfen aber auch dabei, die inneren psychischen Mächte zu erkennen, die sich gegen Veränderung sträuben und die in Abhängigkeitsmustern verharren wollen.

 

IV.    Zum Abschluss


Wir versuchen auf Seiten der Menschlichkeit zu stehen und müssen deshalb die Unmenschlichkeit, so weit als möglich, zu verstehen suchen. In unserer politischen psychoanalytischen Arbeit geht es darum, im emotional mit-geteilten Prozess Geschichte aufzuarbeiten, und die blinden Flecken, Tabus, Geheimnisse, verdrängten Situationen zu erinnern, damit sie in Worte gefasst, in den sozialen Kontext gestellt werden können. Keine Wirklichkeit ist so schlimm, keine Wahrheit so schrecklich wie die Gespenster des Zweifels, der Ungewissheit, des Unsichtbargemachten, des Verschwundenen und Vergessenen. Wenn traumatische Situationen als Teil der Lebensgeschichte und - im Gruppenprozess - als Teil der sozialen und politischen Geschichte integriert werden können, bekommt das Leiden einen anderen Sinn. Erst dann kann echte Widerstands-Energie entstehen, denn auch im Helden- und Martyrerkult versteinert sich die Dynamik und besteht die Gefahr, auf linker Seite anstelle der menschlichen Kommunikation und Diskussion Fetische und Mythen zu erstellen. Im Erinnern liegt der Keim des Nicht-Wiederholen-Wollens. Wenn das Grauen und das Entsetzen, wie es sich in die individuelle Geschichte eingekrustet hat, im neuen Kontext durchlebt wird, macht es Wege offen für TRAUERARBEIT, kann die TODES-Angst mitgeteilt und akzeptiert werden.
Im Gruppenprozess wird zugehört, mitgeteilt, gelacht und gelitten. Die Protagonistinnen, von der Gruppe gewählte 'emergents', machen etwas deutlich durch ihr subjektiv-individuelles Psychodrama, was alle anderen Frauen auch angeht.
Frausein, Frau werden in El Salvador ist ein Prozess intensivster dramatischer Konflikte, durchsetzt mit traumatischen Situationen. Der spezifisch soziale und geschichtliche Kontext, worin sich eine menschliche Situation zum Trauma verdichtet, muss analysiert und verstanden werden. Diesen Bewusstwerdungs-Prozess, der zur möglichen Vertiefung des politischen Engagements führen kann, nennen wir in Lateinamerika 'CONCIENTIZACION', und damit ist vor allem Basisarbeit gemeint mit Frauen, die zum großen Teil erst durch die revolutionäre Arbeit des FMLN alphabetisiert wurden, und die weder zu wissenschaftlichen noch zu therapeutischen Institutionen Zugang haben. Andererseits sind sie es, die durch ihre zentrale Stellung im sozialen Netz und als Mütter eine ungeheure Macht haben, die Trägerinnen des kulturellen Erbes sind und somit auch mögliche Promotorinnen sozialen Wandels. Zum Glück haben sie erkannt, dass ihre Arbeit mit den anderen Frauen erst dann einen neuen Sinn bekommt, wenn sie sich selber diesen Prozess gönnen, wenn sie sich Zeit und Raum geben, ihre eigene Geschichte wahrzunehmen. Nur so können alte Fehler in der politischen Arbeit vermieden werden, als 'Avantgarde1 zu funktionieren und unbewusst hierarchisch autoritäre Strukturen zu wiederholen. Auch hier gilt es wieder, äußere Feinde und innere Widerstände zu überwinden, um dieser Einsicht nachzugeben und Größenphantasien, vermischt mit Leistungsdruck und realen Sachzwängen, zu bekämpfen.

 

Schwesterliche Grüße aus Zentralamerika

FOLGENDE ÜBERLEGUNGEN LEITEN MICH:
Von der Couch, der »goldenen«, zum »kupfernen« Gruppensetting? - Erste und dritte Weltsituation im globalisierten Psychomarkt - Wo bleibt die Psychoanalyse, die »reine«? - Und wo die »Pest«, das subversive Potential? - Nachdenken über eurozentrierte (unbewusste?) Vorurteile - Was tun? -Politische Perspektiven unserer Arbeit - Versuche, die internationale Brücke weiterhin zu stärken - Ist eine »Solidaritäts-Globalisierung« möglich?

AUTOBIOGRAPHISCHE SKIZZEN
Als ich 1980 nach Nicaragua reiste, um auf Einladung des sandinistischen Gesundheitsministeriums für zwei Jahre ein Projekt im psycho-pädagogischen Bereich zu verwirklichen, hatte ich keine Ahnung, dass dies meine Emigration aus der Schweiz nach Lateinamerika bedeuten würde.
Allerdings waren verschiedene subjektive Bedingungen dafür geschaffen, die ich heute aus der kritischen Distanz erkennen kann: Der Wunsch, die sandinistische Revolution aus der partizipierenden Nähe kennen zu lernen; mich als Schweizer Linke aktiv in die Szene der internationalen Solidarität einzumischen; die Neugierde, wie diese Revolution im speziellen auf die Frauen und ihren persönlichen sowie ihren politischen Alltag einwirkt (was das Thema meiner geplanten Dissertation war); die Lust, alte libidinöse Spuren in Lateinamerika aufzusuchen; die Notwendigkeit, zu erleben, ob »unsere« Psychoanalyse im revolutionären Kontext von Nicaragua anzuwenden sei, und wenn ja, in welcher Form; die Herausforderung, auszuprobieren, ob ich selber die politische und berufliche Theorie, die Ideen der Internationalen-Plattform - Bewegung und meine politische Erfahrung seit 1967 mit der revolutionären Praxis in Nicaragua verbinden konnte; das beginnende Unbehagen, in Zürich zur »mode-linken Psychoanalytikerin« zu degenerieren.
Auf die Einladung von Emilio Modena hin versuche ich, mit autobiographischen Skizzen etwas zum Thema dieses Buches beizutragen. Gleichzeitig ist dies eine Rückbesinnung auf unsere gemeinsame psychoanalytische »Wiege« und auf 30 Jahre intensiver persönlicher und beruflicher Beziehung, die uns verbinden. Da wir seit der Plattform-Gruppe unsere Erfahrungen auf verschiedenen Wegen zu verarbeiten suchen, sind wir wohl alle »emergent«* der linken Psychoanalyse, und es kann für die heutige Jugend nützlich sein, unsere Geschichte zu kennen, soweit wir sie selber im Bewusstsein haben.
Für mich persönlich begann die Geschichte von Psychoanalyse und Politik 1969 am Utoquai*, als ich, verloren im Cafe Select*, von Manoli angesprochen wurde und bald darauf meine Psychoanalyse mit Goldy Parin begann. Ich hatte keine Ahnung von Psychoanalyse, sondern bin damals als Selbstmordkandidatin auf der Couch gelandet. In den nachfolgenden intensiven fünf Jahren Analyse, mitten in den Geschehnissen der 68er Bewegung, konnte ich meine traumatische Abtreibungsgeschichte in feministisches Bewusstsein umwandeln, den Ablösungskampf von meiner Familie in politisches Bewusstsein integrieren, als »antiautoritäre« Lehrerin in Zürich-Wiedikon maoistische Gedanken mit psychoanalytischen Kenntnissen verbinden, im Mieterkampf die Situation der Zürcher Arbeiterquartiere kennen lernen, und in der politischen Quartiersarbeit bei der Sozial-Stiftung für kinderreiche Familien der Stadt Zürich in »Auzelg«, das den Übernamen »Negerdorfli von Schwamendingen« oder´s  »Arschloch von Schwamendingen« hatte, meine ersten ethnopsychoanalytischen Erfahrungen machen, ohne diese bewusst zu systematisieren. Die andere wichtige Praxis in diesem Bereich war das kollektive Filmprojekt einer interdisziplinären Gruppe von Studentlnnen und dem Filmemacher Jörg Hasler mit dem Ziel, die sozialen, kulturellen, religiösen und militärischen Machtstrukturen im Kanton Wallis zu untersuchen, erlebt, erlitten und erzählt von Walliser Studentlnnen, die nach Zürich »emigrierten«. Leider endete die zweijährige Arbeit, ohne dass wir ein gemeinsames Produkt kreieren konnten. Die Machtstrukturen innerhalb der Gruppe, Geldmangel und die Unfähigkeit, unsere Konflikte zu lösen, ließen das Material brachliegen.
All diese Erfahrungen festigten in mir den Wunsch, Gruppendynamik und Gruppenmethoden zu studieren, da offensichtlich die meisten Konflikte aus unbewussten Quellen stammten und unseren rationalen Bemühungen trotzten. Bereits damals faszinierte mich die Möglichkeit, Theater, Körperarbeit, Kreativität, interkulturelle Studien und Psychoanalyse zusammenzubringen. In der Basisgruppe Psychologie der Universität Zürich lernte ich den Opportunismus kennen durch die Spaltung von Theorie und Praxis, wogegen mir die Internationale Plattformgruppe als der ideale Ort erschien, um »Marxismus und Psychoanalyse« zu verbinden und das Wissen um die Dynamik des Unbewussten auch auf die politische Praxis umzusetzen.

 

HOHE ZlELE, HOHE ERWARTUNGEN

 

Die Übertragungsprozesse am Utoquai florierten auf allen möglichen Arten in und rund um die Plattform herum und motivierten uns bewusst und unbewusst.
Am berühmten Kongress der IPA * in Wien im Jahre 1971 lernte ich Marie Langer*, Armando Bauleo*, Hernan Kesselmann, Alejandro Scherzer und andere lateinamerikanische Psychoanalytikerlnnen kennen, und es begann die fruchtbare Zusammenarbeit, die zu engen persönlichen Freundschaften zwischen Lateinamerikanerlnnen und uns Schweizerlnnen führte. In unserer Studiengruppe der »Sexpol-Bewegung« sowie in den vielen Study-Group-Erfahrungen am Psychoanalytischen Seminar konnten sich die freundschaft-lichen Bande stärken, die trotz verschiedener politischer Auffassungen und 2Ojähriger geographischer Distanz bis heute für mich ihren Wert behalten.
Zur bitteren Erfahrung des Herrschaftsverhältnisses innerhalb der Geschlechter in den linken Parteien und Organisationen, in meinem Fall bei den Maoistlnnen, gesellte sich leider auch die Wiederholung alter patriar-chalischer Muster in unserer idealisierten Brudergemeinde Plattform, was einige von uns jungen »Kandidatinnen« in der psychoanalytischen Ausbildung dazu bewegte, die Gruppe MERDE zu gründen. Wir wollten die internen Kommunikations- und Machtstrukturen in unserer Gruppe analysieren, um demokratischere Arbeits- und Umgangsformen zu erreichen. Dabei wendeten wir zum ersten Mal die »operative Gruppentechnik« mit der Koordination von Armando Bauleo an, die uns ein ausgezeichnetes Vehikel für unsere Ziele gab. Nebst der geschlechtsspezifischen Diskriminierung erkannten wir den Medicozentrismus innerhalb unserer Gruppe, indem unsere Analyse ergab, dass die »Führerpersonen« in der Gruppe fast alle Männer und Ärzte waren, wogegen wir Frauen zum großen Teil auch in Bereichen wie Quartiersarbeit, Schulpsychologie, Elternvereine etc. arbeiteten. Unsere Anliegen wurden aber von unseren »älteren Brüdern« weginterpretiert, als »Penisneid« und »nicht gelöste ödipale Probleme« belächelt; Reaktionen, die wir allzu gut von den angefeindeten JPA-Analytikerlnnen kannten. Gruppenarbeit wurde damals als »populistisch« radikal verworfen und von den meisten Plattform-Mitgliedern, v.a. den männlichen, als nicht vereinbar mit Psychoanalyse angesehen.
Diese Erfahrung verhalf mir dazu, noch vermehrt die feministische Frauenpolitik mit psychoanalytischem Wissen zu verbinden. Nebst dem Engagement in der interdisziplinären politischen linken Frauenbewegung gründeten wir Selbsterfahrungsgruppen unter angehenden Psychoanalytikerinnen und die Supervisionsgruppe mit Goldy Parin, gegen Ende der 70er Jahre, wo wir spezifische Übertragungsprozesse zwischen Frauen im psychoanalytischen Setting diskutierten.
Das Interesse für die sozialistischen Anti-Psychiatrie-Projekte von Franco Basaglia und Giovanni Jervis, die Faszination von Laing und Cooper und die Quartiersprojekte in Bologna motivierten mich, einige Monate in Italien zu arbeiten. Andererseits studierte ich an der neu gegründeten FU in Berlin bei Prof. Holzkamp zwei Semester Psychologie und erlebte die Kommunenrealität, antiautoritäre Kinderläden, Quartiersarbeit in Kreuzberg, Gruppenerfahrungen bei Günter Ammon etc. Diese Aufenthalte waren meistens meine alloplastische Verarbeitung der Abwesenheit von Goldy Parin, während sie auf ihren Afrikareisen war.
1974 gründeten Emilio Modena und ich unsere Gemeinschaftspraxis an der Zwinglistrasse* in Zürich, wo wir glaubten, unsere Träume verwirklichen zu können, Politik und Psychoanalyse zusammenzubringen. Es war eine sehr fruchtbare und intensive Zusammenarbeit, obschon bald die Widersprüche zwischen uns ersichtlich wurden. Ich machte gegen Emilios Einwände meine erste Psychodramagruppe mit Frauen und begann zu erkennen, dass meine Ideen von einer proletarischen Quartierspraxis nicht denjenigen von Emilio entsprachen. Ich wollte die Psychoanalyse mit politischer Praxis im Quartier verbinden, er wollte beweisen, dass Proletarierlnnen analysefähig auf der Couch sind. Manifest wurde dieser Widerspruch in der Auffassung von politischer Arbeit im Feld der Psychoanalyse, als ich Robert Castel einlud, um über die Pariser Erfahrungen in der Quartiersarbeit zu diskutieren, was damals Emilio und das neu gegründete Seminar Tellstrasse* nicht interessierte.
Heute weiß ich, dass diese Widersprüche und Fragen in Bezug auf die Möglichkeiten der Anwendung psychoanalytischen Wissens »außerhalb der Couch« in vielen Ländern und in verschiedenen Kontexten diskutiert wurden und auch heute im Zentrum des psychoanalytischen Tuns stehen. Die Debatte, ob Gruppenarbeit wohl etwas mit Psychoanalyse zu tun habe, ob Ethnopsychoanalyse* in die Sozialforschung integriert werden konnte oder Arbeit in Institutionen und Organisationen von der Psychoanalyse profitieren konnte etc., wurde damals in unserem schweizerischen Plattform-Kontext abstrakt und rigide geführt, inspiriert von Vorurteilen, Fehlen an Praxis und wahrscheinlich einer Portion Größenphantasien, die eine flexible Diskussion nicht zuließ.
Zur gleichen Zeit (60er Jahre) entwickelten in Lateinamerika die linken Psychoanalytikerinnen ihre Arbeit mit der »operativen Gruppenmethode« (A. Bauleo et al.) auf der theoretischen Basis von E. Pichon-Riviere* und dem Psychodrama (E. Pavlovsky et al.), arbeiteten in Spitälern und in Quartieren (Marie Langer et al.) und gründeten die Bücherreihen Questionamos und Lo Grupal. Im politischen Kontext des beginnenden Staatsterrors der Militärdiktaturen im Cono Sur* bekam die psychoanalytische Praxis der KollegInnen notwendigerweise neue Formen, die sich inzwischen zu einer langen Tradition der psychoanalytisch orientierten Gruppenarbeit entwickelten. Anfangs der 70er Jahre konnten wir im Austausch mit den argentinischen Kolleglnnen diese Gruppenmethoden erlernen und außerdem von ihren beruflichen und politischen Erfahrungen profitieren.
Wenn das Setting in Frage gestellt wird, oder, ob die hochfrequente Analyse noch durchführbar sei, steht immer im Mittelpunkt dieser Diskussion, was denn die Essenz der Psychoanalyse ist und welches unsere ethischen, ideologischen und epistemologischen Grundlagen sind.
Es geht darum, das Unbewusste zu erforschen, und dies im Rahmen der Übertragungsprozesse im jeweils konkreten kulturellen, sozialen und historischen Kontext, in welchem sich der psychoanalytische Prozess entwickelt. Ich denke, dass dabei das Risiko ständig existiert, entweder in dogmatisches, rigides Denken - oder im Gegenteil - in improvisierte, dem Markt entsprechende Anpassungen des Settings zu verfallen. Es gibt wohl keinen anderen Weg, als in ständiger Autoreflexion und kollektiver Diskussion sowohl die eigenen Ambitionen und existentiellen Bedürfnisse, als auch den Einfluss des institutionalisierten (ständischen) Denkens auf unsere Identifikation und unseren Umgang mit der Psychoanalyse zu hinterfragen. Diese unbequeme aber auch faszinierende Aufgabe hat ja bereits Freud erkannt, wenngleich er ihr erlegen ist, um die psychoanalytische Bewegung zu »retten«.
Deshalb ist die alte Frage, ob das »Gold« der reinen Psychoanalyse als einziger Schatz zu bewahren sei oder ob es darum gehe, sich mit »Kupfer« zufrieden zu geben, meiner Ansicht nach falsch gestellt. Oder mindestens sollte die Frage beigefügt werden, welche neuen »Legierungen« dem entsprechenden Kontext am besten entsprechen könnten.
Im Mittelpunkt steht also nicht nur die Notwendigkeit, den jeweiligen Markt, unsere eigene existenzielle Situation und diejenige unserer Patientlnnen zu bedenken, sondern auch den kulturellen, spezifisch sozialen Kontext der Menschen, mit denen wir arbeiten. Meistens sind es nicht nur ökonomische Überlegungen, die eine Gruppenarbeit indizieren, und deshalb ist es natürlich von großem Vorteil, wenn wir nicht nur die »orthodoxe« Psychoanalyse kennen, sondern auch andere Methoden in unserem »Werkzeugkoffer« mit dabei haben. Von meiner eigenen langjährigen Erfahrung her kann ich aber sagen, dass die individuelle und hochfrequente Psychoanalyse auf der Couch für mich ohne Zweifel die Basis ist, die mir erlaubt, mit anderen Methoden (v.a. dem Psychodrama) zu arbeiten sowie im Rahmen der Sozialforschung aktiv zu sein.
Nebst meiner Ausbildung in Psychodrama am Moreno-Institut Überlingen, Boston, und in unserer Zürcher Gruppe suchte ich linke Theatergruppen auf, um diese beiden Gebiete zu integrieren. Mit Augusto Boal lernte ich in Paris die Arbeit des »teatro de los oprimidos« kennen, eine politische Variante des Psychodramas; später (1980), in den Anfängen der Jugendbewegung, lud ich ihn nach Zürich für einige Workshops ein, als ich bereits mein Projekt mit Nicaragua vorbereitete. Ebenso lernte ich von Jonathan Fox und seinem Back Stage Theater in New York viele Möglichkeiten, die psychodramatische Arbeit zu bereichern.
Auf diesem Gebiet der Kunst knüpft das Psychodrama an die Tradition der Surrealisten an, wobei wir im Gruppenprozess auch ethnopsychoanalytische Studien machen können, da die persönlichen und kulturellen Symbole in der Körpersprache und averbalen Kommunikation sichtbar werden.

 

»FRESSEN REVOLUTIONEN IHRE KINDER AUF ...?« NICARAGUA 1980-84

 

Einige Kolleglnnen des Gesundheitsministeriums hatten bereits eine Einführung in die »operative Gruppentechnik« mit Armando Bauleo erlebt und wollten diese Erfahrung vertiefen. Mein Projekt war ausgerichtet auf die Ausbildung von sandinistischen Kolleglnnen und politischen Kadern im Bereich von Salud Mental, im Besonderen auf dem Gebiet der Gruppenmethoden im klinischen, sozialen, institutionellen und pädagogischen Bereich. Im Zusammenhang damit und außerdem für mein persönliches ethnopsy-choanalytisches Forschungsprojekt1 arbeitete ich mit proletarischen Frauen aus einem Quartier in Managua, die sich zu einem Schneiderinnenkollektiv zusammengeschlossen hatten; dies in Zusammenarbeit mit der Frauenorganisation AMNLAE.
Ausgerüstet mit meinen beruflichen Werkzeugen, der Psychoanalyse, dem Psychodrama und der »operativen Gruppentechnik«, begann ich meinen Weg in Lateinamerika, getrieben von der Utopie, Psychoanalyse mit revolutionärer Politik zu verbinden. Diese Leidenschaft hat sich in den letzten 20 Jahren verstärkt, trotz schmerzlicher Erfahrungen und Desillusion. Wahrscheinlich bin ich heute realistischer und habe meine Erwartungen zurückgeschraubt, aber die Ideale konnten sich erhalten und sind dank verinnerlichter »guter Objekte« stärker geworden. Ich hatte das Glück, Politik und Liebe integrieren zu können, so dass sich revolutionärer Kampf mit glücklichen Erfahrungen verband.
Dazu gehören Goldy Parin, meine Psychoanalytikerin, der ich diesen Artikel widmen möchte, und Paul Parin*, mit dem ich zum Glück noch heute politisieren und diskutieren kann. Durch Goldy habe ich die Psychoanalyse als »subversives Potential«* im eigenen Frauenleben kennen gelernt; die Faszination und die Neugierde, in verschiedensten Situationen und Kontexten zu forschen, beflügeln mich noch heute. Allerdings gesellte sich zu dieser lustvollen Kraft mit der zunehmenden politischen Erfahrung auf dem lateinamerikanischen Kontinent die andere Seite dazu, die wohl eher zu den aggressiven Impulsen gehört und nicht libidinös gespeist ist. Je zunehmender hier das Elend ist, als Konsequenz der neoliberalen Politik und der Globalisierungsstrategien der dominanten reichen Welt, je mehr Menschen leiden auf allen Ebenen, umso mehr festigt sich in mir das Bewusstsein, dass es ohne Kampf keine Hoffnung auf ein Weiterleben gibt, nicht zu reden von einem »besse-ren« und gerechteren Leben! Das heißt, dass sich die Fragen einmal mehr stellen, die in den 30iger Jahren die Kolleglnnen der Sexpol-Bewegung in den Mittelpunkt rückten:
 Weshalb lässt sich die Masse manipulieren?
 Warum gibt es keinen organisierten Widerstand?
 Welche Rolle spielt die »gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit« (Mario Erdheim 1982)?
 Wie manifestieren sich heute in der spezifischen Kultur, in der wir leben, die Herrschaftsverhältnisse, und wie werden sie aufrecht erhalten? (Massenmedien)
 Was kann die Psychoanalyse beitragen?
 Ist der Wiederholungszwang unüberwindbar?
 Ist Krieg vermeidbar?

Es ist traurig und macht mich wütend, dass so viele der damaligen 68er ihr politisches Engagement als »Jugendsünde« belächeln. Oder sich bequem zurücklehnen und sich mit intellektuellen Diskussionen immer noch als »Linke« wähnen. Oder nostalgisch von ihren Nicaragua-Zeiten träumen, verbittert oder resigniert die Niederlage der Linken hüben und drüben als Schlusspunkt ihrer politischen Karriere betrachten. Dies in Zeiten, wo der angehäufte Reichtum, die Technologie und die Informatik es erlauben würden, dass kein Mensch auf diesem Planeten hungern müsste! Das Gegenteil ist der Fall: noch nie war das Elend der Menschen der dritten (fünften?) Welt so groß wie heute.

WAS TUN?

In der brasilianischen Stadt Porto Alegre fand im Februar 2001 das erste internationale Antiglobalisierungstreffen statt, das die internationalen Proteste in einer langsam sich wieder organisierenden »Frente Amplio« von Bauern, Landlosen (»l@s sin tierra«), Linken, Grünen, Feministinnen, Indianerlnnen, Schwulen etc. versammelt. Ebenso wichtig sind natürlich weiterhin die Kämpfe der Zapatistlnnen in Mexiko, die am besten ausdrücken, was in allen Ländern Lateinamerikas mit der indianischen Bevölkerung passiert. Wo sind dabei die Intellektuellen, wo die Psychoanalytikerlnnen geortet?
Im Zusammenleben mit Antonio (Honorio Grieco, Tupamaro aus Uruguay, mein Lebensgefährte von 1981 an bis zu seinem Tod 1996) und anderen südamerikanischen Revolutionärlnnen, im Kontext von Exil,Trauma-tisierungen, Folter, Klandestinität, bekam für mich die Psychoanalyse neues Leben. Ich war anfangs recht skeptisch über die Möglichkeit, sie produktiv zu machen in Nicaragua, in der Situation der tausend existentiel-len Probleme. Aber das brennende Interesse und die vielfach wiederholten Ausrufe: »Wenn wir das gewusst hätten!« erinnerten mich an meine eigene Faszination und Überzeugung, dass das Wissen um Psychoanalyse unerhört wichtig ist für politische Aktivität. Nicht nur als Therapie, sondern vor allem als Wissenschaft über die unbewussten Prozesse, die Antworten geben kann im Problemkreis der politischen Organisationen und Arbeitsmethoden. Allerdings traf ich zusammen mit Antonio wiederum (wie damals in der schweizerischen Linken) auf große Widerstände seitens der revolutionären compañer@s; es klangen die alten Vorurteile, Psychoanalyse sei eine kleinbürgerliche Ideologie, in den Ohren. Aber der Kontext und die Präsenz von Antonio machten es den Leuten nicht so einfach, solch simple Argumente zu gebrauchen. Also entstand ein kleiner Kreis von internationalen compañer@s in Nicaragua, in welchem wir spezifisch politische Phänomene zu studieren begannen, mit Einbezug der Psychoanalyse, z.B.: »Warum wurde compañero X. zum Verräter?«
»Welche Aspekte der Persönlichkeit sind wichtig für die Teilnahme an einer klandestinen Aktion?«
»Ist sexuelle Abstinenz angezeigt in der Klandestinität, oder ist sie eben gerade Neurose fördernd?«
»Wie steht es mit dem Geschlechterverhältnis innerhalb der Organisation? « »Was machen wir, wenn jemand Angst hat mitten in einer Aktion? « »Wo bleibt die Trauerarbeit über den Verlust der compañer@s?« »Welche Methoden könnten für mehr Sicherheit sorgen?« etc.

Auswirkungen der militärischen Deformierung innerhalb der revolutionären Linken wurden im Zusammenhang mit der Kultur des lateinamerikanischen Machismos erkannt. An einem internationalen Treffen brachte die Erinnerung an die Großväter und die Väter mehr Information und Einsicht in persönliches politisches Engagement als alle politischen Sitzungen zuvor über die Regeln der »militanten Teilnahme« am Kampf. Dann wurde auch akzeptiert, dass das Fehlen der Frauen (Mütter, Großmütter) bei den Erzählungen ebenso bezeich-nend ist wie das Fehlen der Kämpferinnen im Führungskreis...
Leider, oder bezeichnenderweise, wurde von den Sandinisten, als sie die Macht im neuen Staat übernahmen und sich zur legalen Partei formierten, die geplante Arbeit mit den politischen Kadern nicht durchgeführt. Später drückte Daniel Ortega an unserem Treffen des CIR (Centre International de Recherche Groupal, »Internationale Organisation des Bereiches operative Gruppenmethode«, gegründet von Armando Bauleo und Marta de Brasi) im Jahre 1990 in Nicaragua sein Interesse aus. Nur vergaß er dabei, dass er dies machte, nachdem er bereits die Wahlen an Violeta Chamorro verloren hatte ...

 

»DAS OBLIGAT UNGLÜCKLICHE VERHÄLTNIS  DER PSYCHOANALYTIKER ZUR MACHT«  (PARIN, PARIN-MATTHEY 1986)

 

Unsere Übersiedlung nach Costa Rica geschah im politischen Kontext der sandinistischen Politik und der lateinamerikanischen revolutionären Organisationen. San Jose, die Hauptstadt, glich in den 80iger Jahren Casablanca, denn sie galt als Basis für alle möglichen Organisationen, während Honduras der militärische Stützpunkt für die Organisierung und Unterstützung der Konterrevolution seitens der USA war. Unser Restaurant diente uns als letzte Station des Exils von Antonio und war Ort der vielfältigsten Begegnungen. Für mich war diese Zeit die schwierigste, da ich das auferlegte Schweigen im klandestinen Kontext mit der psychoanalytischen Abstinenz verbinden musste; von linken Polittouristen, die uns besuchten, wurde ich zur »kleinbürgerlichen Besitzerin« abgestempelt. Der narzisstische Wunsch, mich zu rechtfertigen und »die Wahrheit« zu erzählen, kam in Konflikt mit den politischen Regeln. Mit wem also in meiner eigenen Sprache reden? Nur dank den Supervisionen und Diskussionen mit Goldy und Paul (auch mit Berthold Rothschild*) während meiner Besuche in der Schweiz konnte ich jene Jahre und Erlebnisse bewältigen. Es war die Erfahrung, den »sozialen Tod« (Mario Erdheim) zu erleiden, existentielle Angst und Einsamkeit kennen zu lernen, die bekannte Welt und die aufgebaute Identität zeitweise aufzugeben.
Wer bin ich, wo bin ich, weshalb bin ich hier? Die Emigration begann, »wahr« zu werden.
Es waren schwierige Grenzerfahrungen, die mir heute sowohl für mein persönliches wie mein berufliches Leben außerordentlich viel nützen und die Möglichkeit geben, mich in die Situation der Menschen in Gefahr, in einer Doppelidentität, im traumatisierenden Kontext einzufühlen.
Und jetzt, da ich reden kann (oder sollte ich nicht?), steht politisch weniger auf dem Spiel, ist die Sorge um die Sicherheit der compañer@s leider nicht mehr nötig. Viele sind tot, die revolutionären Organisationen zersplittert oder als legale Parteien tätig. Die politische Situation in den letzten 20 Jahren in Zentralamerika hat sich total geändert, weil die Kraft der linken Opposition zerschlagen ist.

 

COSTA RICA - EL SALVADOR - KUBA – PALÄSTINA

 

Seit 1989 bin ich offiziell als Psychoanalytikerin hier in Costa Rica tätig, symbolisch bleibe ich der Schweiz patriotisch verhaftet. Costa Rica wird als »Suiza de Centroamerica« betrachtet, Uruguay war die » Suiza de America del Sur« ... und zum Glück konnte ich die Brücke zu meinem Freundes- und Kollegenkreis behalten, bin eine Pendlerin, »viajera entre los continentes«. Was der Schweizerpass alles erlaubt! Auch dies habe ich gelernt, meine Privilegien als Europäerin zu erkennen, auszunützen und bewusst zu machen, wie tief verhaf-tetes eurozentrisches Denken bei mir und bei andern existiert, und wie wichtig die permanente Selbstanalyse auf diesem Gebiet ist, um nicht unbewusst in neokolonialistische Haltungen zu regredieren oder in arrogantem Besserwissen den andern die eigene Meinung aufoktroyieren zu wollen. Wie oft denken die Europäer, sie wüssten, was für die Völker der Dritten Welt nötig sei, vor allem auch die Linken. Und weil ihre eigenen grandiosen Phantasien der 68er Zeit verloren sind, konnte schnell die Reaktionsbildung einsetzen: Alles wird falsch gemacht, nichts hat einen Sinn; Verachtung und Hass tritt anstelle der einstigen Idealisierung ... Narzisstische Wurzeln der politischen Motivation werden erkennbar!

 

IST DER MENSCH VERÄNDERBAR?
 

Einige nennen mich »Dinosaurierin«, weil ich diese wichtige Frage, die Paul Parin im Interview mit Aurel Schmidt (Parin, Parin-Matthey 1986, S. 153-165) diskutierte, weiterhin trotz pessimistischer Aussichten in den
heutigen Machtverhältnissen auf der Welt positiv beantworten möchte. Sonst könnte ich nicht als Psychoanalytikerin tätig sein, und sonst hätte ich meinen politischen Aktivitäten längst abgeschworen. Es könnte also eine Mischung von Selbsterhaltungstrieb und Aufrechterhaltung des Ich-Ideals sein, die mich die Hoffnung nicht verlieren lässt. Wiederum denke ich an die Wichtigkeit der verinnerlichten guten Objekte, die einen Gegenpol zum aggressiv-sadistischen Aspekt des fordernden Über-Ichs geben können, den ich notwendigerweise als Deutsch-Schweizerin auch internalisiert habe. »Nicht aufgeben, wenn du Dir genug Mühe gibst, geht es ...« etc.
Im engen Zusammenleben mit Menschen, die gefoltert wurden, habe ich lernen müssen, dass solch traumatisierende Erfahrungen meistens das »Vertrauen in die Menschheit« zerstören und nicht wieder gut zu machen sind. Es kommt wohl im Individuellen darauf an, welche Abwehrmechanismen das Subjekt zur Verfügung hat, ob in seiner frühen Kindheit eine Basis zum »Urvertrauen« gebildet wurde, die sich eventuell etwas halten kann, wie das Anpassungsvermögen des Ichs im Einzelfall ist und wie sich die aggressiven Impulse äußern können.
Die christliche westlich-zivilisierte (?) Welt maßt sich an zu sagen, sie sei dem Talionsgesetz entwachsen, von primitiven Reaktionen wie Rachegelüsten oder »Auge um Auge, Zahn um Zahn ... « emanzipiert! Aber wo sind die Aggressionen der westlich-kapitalistischen Menschheit geblieben? Die Ethnopsychoanalyse versucht seit dem Beginn der Forschungen von Parin, Parin-Matthey und Morgenthaler in den 60iger Jahren, Antworten zu geben oder mindestens durch die Kenntnisse von andern Kulturen bessere Einsicht in das Funktionieren der unbewussten Dynamik von Subjekt, Kultur und psychischer Struktur zu gewinnen. Heute, da die neuesten Beiträge der Wissenschaft immer mehr biologisierende Theorien und die chemische Behandlung der Probleme empfehlen, ohne zu fragen, was wohl der Grund dieser Probleme sei, ist die Psychoanalyse einmal mehr unerwünscht und »ineffizient«. Aber wir können denken, dass sie, wie die Katzen, mehrere Leben hat (aus einem persönlichen Gespräch mit Paul Parin 2001).
Es scheint doch immer wieder das Interesse aufzutauchen, wie es denn mit dem Unbewussten stehe? Das Unheimliche ist trotz Vermarktung in den Massenmedien nicht weg zu denken von der Kinder- und Erwachsenenwelt, und wenn in der so genannten Modelldemokratie USA adoleszente Jugendliche vermehrt Amok laufen und ihre Kolleglnnen in der Schule erschießen, kommen sogar die besten Medizinerlnnen an ihre Grenze.
Wie wir wissen, ist unsere Richtung der gesellschaftskritischen Psychoanalyse nicht gefragt, in Europa ist sie anscheinend »aus der Mode gekommen«, und hier in Lateinamerika wird sie von den postmodernen Strömungen, v.a. dem Lacanismus, verdrängt. Er zeigt sich vom Cono Sur bis Mexiko in elegantem Gewand, es werden Glasperlen und schillernde Farben verkauft, der Markt läuft gut. Denn die meisten Menschen hier wollen nicht an das Schmerzliche denken, möchten den narzisstischen Kränkungen ausweichen, die Realität und ihren Niederschlag in sich selber nicht erkennen. Sie möchten Europäerlnnen oder noch besser: Amerikanerlnnen sein. Selbstverständlich ist diese Illusion nur für die Mittel- und Oberschichten denkbar, aber das ist ja die Schicht, an die die Psychoanalytiker normalerweise gelangen. Es entstand seit den 60iger Jahren in Lateinamerika ein Kult der international gut organisierten lacanianischen Gruppierungen, die in Argentinien ihre Stärke während der Militärdiktaturen erreichten, hier in Zentralamerika erst in den letzten zehn Jahren im Zug der neoliberalen Strömungen auftauchten.
Ich verberge meine Abneigung gegen diese Kolleglnnen keineswegs, da die Erfahrungen mit ihnen sehr negativ sind, da sie, v.a. die Gruppe der Argentinierlnnen, die anfangs der 90iger Jahre hierher emigrierte, ohne jedwelche Ethik in einem verführerischen grandiosen (imperialistischen) Gebaren auftraten, unsere Aktivitäten boykottierten oder dann einfach ignorierten. Selbstverständlich gilt mein Ärger der Tatsache, dass sich die Leute hier von dieser Art Psychoanalyse angezogen fühlen, sich kritiklos in Abhängigkeitsstrukturen inzestuöser Art begeben, stumm die importierten Göttergestalten bewundern, die uns natürlich in unsern Bemühungen völlig an den Rand gedrängt haben, da sie auch freien Zugang und Unterstützung seitens der offiziellen Presse haben. Rivalitätskonflikte oder politische Konsequenz? Wohl ist beides dabei ...
Trotz dieser »ungünstigen historischen Verhältnisse«, oder eben gerade weil diese wohl als logische Konsequenz in der Geschichte der kritischen Psychoanalyse* zu verstehen sind, führen wir unsere Arbeit in der eroberten gesellschaftlichen Nische fort; Goldy Parin würde sagen: »notwendigerweise subversive«. An der staatlichen Universität (UCR) habe ich Mitte der 90iger Jahre im Postgraduierten-Studium in Ethnopsychoanalyse promoviert, dessen Auswirkungen sich in Forschungsprojekten und einer Weiterführung des Studiums am Sozialforschungsinstitut im interdisziplinären Rahmen mit einem Kreis von 15 Kolleglnnen spiegelt.
Seit 1989 besteht ASPAS (Association de psicoanalisis y psicologia social) als interdisziplinäre Organisation mit dem Interesse, Psychoanalyse auf verschiedene Weise zu sozialisieren; Vorträge, Seminaren, Diskussionsrunden etc. Bis jetzt haben wir sechs Publikationen Giros de ASPAS veröffentlicht, mit den folgenden thematischen Schwerpunkten:
1. Psychoanalyse und operative Gruppe (1990)
2. Psychoanalyse und Menschenrechtsprobleme (1992]
3. Psychoanalyse und weiblicbe Sexualität (1994)
4. Psychoanalytisch orientiertes Psychodrama (1996)
5. Ethnopsychoanalyse (1998)
6. Aussichten der Psychoanalyse im III. Jahrtausend (2000)

Ich bin sehr froh, dass es möglich war, Brücken zu bauen zwischen ASPAS und dem PSZ* (Psycboanalytisches Seminar Zürich), dem Werkblatt (Österreich) und lateinamerikanischen Kolleglnnen, die uns mit ihren Besuchen und ihrer Mitarbeit helfen, Psychoanalyse zu vermitteln. Dank einer Spende des PSZ war es uns möglich, einige wichtige Texte im Bereich der Ethnopsychoanalyse zu übersetzen.
Es fehlen hier in Zentralamerika gut ausgebildete Psychoanalytikerlnnen, und ich befand mich im Dilemma mit den Übertragungsprozessen und dem Wunsch, psychoanalytische Ausbildung zu strukturieren. Bis anhin habe ich darauf verzichtet mit dem Bewusstsein, dass ich unweigerlich zur Guru und allmächtigen (inzestuösen) Mutterfigur erhoben würde, was die Qualität der Ausbildungsinstitution beeinträchtigen und eben wiederum in die Richtung der von uns kritisierten Ausnützung von unbewussten Prozessen für zentralisierte Machtverhältnisse gehen würde. Hingegen existiert bereits ein Kreis von ca. 20 Kolleglnnen, die ihre langjährige und hochfrequente Analyse bei mir abgeschlossen haben und die beginnen, sich um die Weiterausbildung zu kümmern. Ich würde dabei sozusagen die Rolle der » Alten im Hintergrund«, nach afrikanischem Muster, übernehmen, und das wäre sehr gut so.
Die Übertragungsprozesse im Psychodrama werden anders gehandhabt, da im Mittelpunkt nicht die Bildung einer Übertragungsneurose steht, sondern die Erfahrung und Analyse der unbewussten Prozesse im Gruppengeschehen, die fortwährend interpretiert (dargestellt) werden. Deshalb besteht weniger Gefahr der Hierarchisierung (in Form einer omnipotenten Mutterfigur), obschon diese Tendenz existiert und dauernd reflektiert werden muss. Wir haben vor zwei Jahren ICOPSI (Instituto Costarricense de Psicodrama Psico-analitico, http://aspascr.com) gegründet, als Institutionalisierung der Ausbildungszyklen, die ich seit zehn Jahren hier in Costa Rica organisiert habe, und wir sind dabei, zusammen mit den Kolleglnnen der EMPS (Escuela Mexicana de Psicodrama y Sociometria) eine für Zentralamerika ausgerichtete Vernetzung aufzubauen. Im Augenblick sind wir zwölf Frauen als aktive Mitarbeiterinnen im ICOPSI um einen Kreis von ca. 30 Kandidatlnnen in Ausbildung. Zum Glück sind vermehrt auch Männer dabei (dies sowohl im Psychodrama wie in der Einzelanalyse), was in der hiesigen mutterzentrierten und machistischen Kultur einen riesigen Fortschritt bedeutet ...
Seit sechs Jahren mache ich Ausbildung in Psychodrama mit Frauen der politischen Organisation in El Salvador, M.A.M. (Melida Anaya Mantes),
Ex-Guerrilleras, die als »Barfußärztinnen« aktiv sind. Sie sind interessiert an der Methode, brauchten aber in erster Linie ihre eigene Therapie. Die Mehrzahl der Frauen sind von Krieg, Klandestinität, Gefängnis und Folter traumatisiert. Die Frauen der ersten Gruppe multiplizieren ihre Erfahrung bereits in ihren Dörfern, wobei ich sie mit Supervision unterstütze. Die zweite Gruppe ist in ihrem Prozess fortgeschritten, obschon die kürzlichen Erdbeben und erneute traumatische Situationen die Arbeit sehr erschweren und intensivieren.
Diese solidarische Arbeit mache ich mit der Unterstützung der schweizerischen NGO* Central Sanitaire Suisse (CSS), die ebenfalls die Unkosten meiner diesbezüglichen Arbeit in Palästina im GCMHP (Gaza Center for Mental Health Programm) seit 1998 finanziert.
An anderer Stelle (GSS-Bulletins, GIROS de ASP AS, Subjetividad y Cultura) habe ich ausführlich und theoretisch erörtert, weshalb ich das Psychodrama als günstige Methode im lateinamerikanischen Kontext betrachte und auch in Situationen, die traumatische Erfahrungen beinhalten. Dies, ohne meine Identität als Psychoanalytikerin in Frage zu stellen.

Zum Schluss möchte ich den Schwerpunkt auf die Arbeit in Kuba legen. Seit 1986 fanden alle zwei Jahre die Encuentros latinoamericanos de psico-analistas y psicolog@s marxistas statt; im ganzen waren es sieben Anlässe, bei denen auch viele europäische Analytikerlnnen teilnahmen. Initiiert wurden diese Kongresse von Mimi Langer, Juan Carlos Volnovich und Silvia Werthein, und sie bedeuten in der Geschichte der linken Psychoanalyse die Überwindung der langen Spaltung und des Widerstandes seitens der sozialistischen Länder gegen die »kleinbürgerliche Psychoanalyse«. Ohne hier ausführlich auf die Dynamik und die inhaltlichen Diskussionen eingehen zu können, soll lediglich betont werden, dass die intensiven einwöchigen Kongresse überaus interessant und aufschlussreich waren für die Diskussion: Psychoanalyse, Sozialismus und Ideologie.
Für interessierte Kolleglnnen existieren viele Arbeiten (auf spanisch) darüber, vor allem in der Zeitschrift

Subjetividad y Cultura, herausgegeben von Miguel Matrajt, Enrique Guinsberg und Mario Campuzano, Mexiko. Aber wir wissen um die Begrenztheit der theoretischen Diskussionen in unserem Berufsfeld, und deshalb suchte ich nach Möglichkeiten, praktische »Basisarbeit« zu machen. Dieses Interesse verband mich wiederum mit Emilio Modena, der als mediCuba*-Vorstandsmitglied in Zürich das Projekt eines professionellen Austausches mit dem COAP* lancierte, das ich von Costa Rica aus unterstützen konnte.
Dieses Projekt ist demnach die direkte Konsequenz dieser internationalen Treffen, die die schweizerische NGO mediCuba Suiza mit dem kubanischen Ausbildungszentrum der psychologischen Fakultät der Universität La Havana, der Poliklinik COAP (Centro de Orientacion y Asistencia Psicologica), vereinbart hat, dies unter der Projektleitung von Emilio und mit meiner psychoanalytischen und psychodramatischen Arbeit seit 1996. Zuerst war es solidarische (unbezahlte) Arbeit, jetzt hat mediCuba mehr Geld zur Verfügung, so dass eine Erweiterung der Zusammenarbeit möglich ist. Wenngleich immer noch Vorurteile gegen die Psychoanalyse seitens einiger kubanischer Kolleglnnen bestehen, hat das Interesse der jungen Psychologlnnen die Oberhand gewonnen, so dass ich anfangs dieses Jahres einen Intensivaufenthalt von drei Monaten machte. Dabei stehen im Mittelpunkt der psychoanalytischen Arbeit die Kasuistik und Supervisionen, damit die abstrakten Begriffe »unbewusst« und »Übertragung und Gegenübertragung«, »Widerstand«, »Abwehrmechanismen« etc. ihre Bedeutung bekommen. Während der »Encuentros« waren verschiedene schweizerische Psychoanalytikerlnnen aktiv, nebst Emilio Modena auch Pedro Grosz, Ita Grosz-Ganzoni, Christian Jordi (aktueller mediCuba- president), Ruedi Studer, Gregor Busslinger u.a.m.
Aber die Nachfrage der kubanischen Kolleglnnen ging in erster Linie danach, ihre eigene Therapieerfahrung machen zu können. Es besteht eine ähnliche Situation in Kuba wie in Costa Rica und den anderen zentralameri-kanischen Ländern, indem Psychoanalyse zwar theoretisch an den Universitäten gelehrt wird, aber keine Möglichkeit der Therapie besteht. Bekanntlich sind die meisten Psychoanalytikerlnnen 1959 beim Sieg der Revolution nach Miami geflohen, und es brauchte 30 Jahre und die Krise des Sozialismus, bis eine vorsichtige Annäherung gewünscht wurde. Ich entschloss mich, Psychodramagruppen zu machen, um ihnen eine minimale psychoanalytisch orientierte Selbsterfahrung/Therapie im Rahmen einer Ausbildung zu ermöglichen. Die erste Gruppe umfasste das Team des COAP und war demzufolge eine Arbeit, die Aspekte der Institutionsanalyse beinhaltete, zu gleicher Zeit wie sie den Einzelnen die Möglichkeit gab, ihre persönlichen Probleme in der Gruppendynamik zu bearbeiten. Die Teilnehmerlnnen erlebten zwischen 1997 und 2000 einen intensiven Therapie- und Lernprozess, jeweils zweimal jährlich während einer Woche.
Während des diesjährigen längeren Aufenthaltes konnte ich natürlich vielfältiger arbeiten, sei es an der Fakultät mit Vorträgen und Diskussionen über psychoanalytische Themen, sei es in anderen Institutionen wie Justizministerium und Pädagogischer Hochschule, die ebenfalls großes Interesse an einer Zusammenarbeit haben. Da sich in dieser Zeit meines praktischen Engagements die persönlichen sowie die politischen Beziehungen vertieft haben, konnte ich auch Einzeltherapien mit elf Psychologlnnen in Form von psychoanalytischen Kurztherapien machen.
Daneben formierte sich die zweite Psychodramagruppe an der psychologischen Fakultät, mit 15 Studentlnnen und einigen Professorinnen im Projekt Diplomado de psicodrama psicoanalitico (Zusatztitel). Wir realisierten 16 Psychodrama-Nachmittage (je drei Stunden), so dass jede/r Teilnehmerln eine intensive Therapieerfahrung machen konnte. Natürlich kamen auch hier Aspekte der Institution zur Verarbeitung, und wir mussten das spezifische Setting innerhalb der Universität beachten. Die Psychodrama-Gruppenarbeit mache ich jeweils mit einer Ko-Therapeutin aus Costa Rica, Kolleginnen, die bei mir ihre Psychodrama-Ausbildung absolviert und die überdies psychoanalytische Erfahrung haben. Damit konnten wir eine Brücke zwischen kubanischen und costaricanischen Kolleginnen bauen, die überaus fruchtbar geworden ist.
Ich denke, dass es in diesen Zeiten in erster Linie darum geht, neue Vernetzungen zu schaffen; Nord-Süd-, aber auch vor allem Süd-Süd-Verbindungen zu konstruieren, um der zerstörerischen ökonomischen Globalisierungsstrategie unsere alternative Solidaritäts-Globalisierungsbewegung entgegenzustellen.
Wie ersichtlich ist, habe ich meinen Größenphantasien noch nicht abgeschworen, sondern möchte sie weiterhin in den Dienst der Utopie für eine gerechtere Welt stellen. Dabei hege ich die Hoffnung, dass diese Information aus Mittelamerika einige von den Leserlnnen neugierig gemacht hat auf eine mögliche Zusammenarbeit...


ANMERKUNG
Meine Dissertation 1994: Mujeres en camino - Frauenleben im politischen Wandel - Eine ethnopsychoanalytische Untersuchung mit Städterinnen und Landarbeiterinnen in Nicaragua. Diese Arbeit wurde von Prof. Dr. G. Schmidtchen von der Universität Zürich mit der Begründung abgelehnt, dass der Begriff »Revolution« nicht wissenschaftlich und das Thema zu politisch sei, abgesehen davon, dass sich Psychoanalyse nicht für sozialpsychologische Untersuchungen eigne. Deshalb reichte ich sie an der Universität Klagenfurt ein und promovierte im Jahre 1994 unter Leitung von Prof. Dr. J. Reichmayr.

GESELLSCHAFT
Vorwärts 14. November 1997

Gewalt traumatisiert -Widerstand befreit

Politische, wirtschaftliche und strukturelle Gewalt traumatisiert- medizinische und psychologische Unterstützung als Beitrag zur Befreiung». Unter diesem Motto steht die Tagung des linken Hilfswerks «Centrale Sanitaire Suisse» CSS vom kommenden Samstag, das sein sechzigjähriges Bestehen feiert (vgl. auch Vorwärts 26.9.). Aus gegebenem Anlass einige Gedanken der Psychoanalytikerin Ursula Hauser zum Thema «Geistige Gesundheit und Gewalt». Ursula Hauser arbeitet in Costa Rica, wo sie Frauen in diesem Bereich ausbildet

 

Was ist «geistige Gesundheit»? Eine Illusion, eine Utopie, ein Konzept der Unmöglich-keit? Jedenfalls bewegen wir uns mit diesem Thema zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in einer Realität, die nicht allzu viel Optimismus zulässt. «Geistige Gesundheit» gibt es nicht. Der Begriff beinhaltet die historische Spaltung von Körper und Geist, die in unserer westlichen (kapitalistischen) Welt immer größer wird, ebenso wie die Spaltung zwischen arm und reich. Der Körper soll zur Konsummaschine, der Geist zum Roboter reduziert werden; der Mensch wird als Ware verwertet oder ist unbrauchbar, unnütz und störend.
Und wo bleibt die Psyche? Welche Möglichkeiten existieren zur Persönlichkeitsentwick-lung? Wenn diese unter anderem als «0rt der menschlichen Gefühle und Konflikte» verstanden werden soll, die phantasieantreibend und -bewegend sind, hat sie keine große Chance zum Überleben oder gar zum Wachsen.
Immer dringender stellt sich die Frage: Was tun? In unserem Zusammenhang heißt sie: Wie können wir uns der Utopie der «Gesundheit» im integralen Sinn nähern. Ich denke, es ist grundsätzlich ein politisches Problem, denn die meisten der vorgegebenen «Lösungen» und «HeiIungsmodeIle» sind im Dienste des «Medicozentrismus» ein gutes Geschäft, Ablenkung von der Suche nach der Ursache des Übels im Sinne der passiven Anpassung an das (krankmachende) System, oder mindestens illusionenbildend.
In wessen Dienst stehen solche «Gesundheitsmodelle»? Welche «GIücksvorstelIung» liegt ihnen zu Grunde, und welcher Begriff von «Normalität» bestimmt ihr Handeln?
Gehen wir unserer Utopie nach, so möchte ich stichwortartig die minimalen und notwen-digen Voraussetzungen für ein «gesundes Wachstum» nennen:
1. Gewaltverminderung, und zwar von der sexuellen Gewalt in der Familie bis zu Kriegsverbrechen, 2. eine gesicherte Existenz, die ein Recht auf (sinnvolle) Arbeit, auf Bildung, medizinische und psychologische Betreuung einschließt, 3. Möglichkeiten zur Konflikttoleranz und -bewältigung, 4. Förderung der menschlichen Kommunikation, 5. ein Gesellschaftssystem, in dem das Wohl der Frau, des Mannes und der Kinder im Mittelpunkt steht.
Die Utopie ist demnach dieselbe wie vor dreißig, sechzig oder 150 Jahren; es muss auf ökonomischer, sozialer und individueller Ebene Gerechtigkeit geschaffen werden. So-lange das Klassensystem, die Spaltung von arm und reich, die Ausgrenzungspolitik, der Warenfetischismus und die Diskriminierung existieren, kann niemals Friede herrschen, kann die menschliche Entwicklung nicht zur aktiven und kreativen Persönlichkeitsent-wicklung führen, kann «Gesundheit» nicht im geringsten erreicht werden, sind Traumatisierungen schlimmster Art Teil des Systems.

 

Äußere und innere Machtstrukturen

 

Nur wissen wir inzwischen durch schmerzliche Erfahrungen, dass dies auch im Kommu-nismus, wie er bis anhin verwirklicht wurde, nicht möglich war, ganz im Gegenteil, und fügen deshalb unserer Frage hinzu: Was tun -und was vermeiden? Vorerst, denke ich, geht es darum, Geschichte aufzuarbeiten. Erinnern, wiederholen, durcharbeiten; verstehen und bestenfalls verändern können, bedingen sich gegenseitig. Wer bin ich? Was willst du? Wer sind wir, was wollen wir? Oftmals wurden solch grundsätzliche Fragen in den linken Organisationen ausgeklammert * und für selbstverständlich genommen.
Die Ausweitung der CSS-Aktivitäten auf den Sektor «Geistige Gesundheit» ist unerhört wichtig, er führt uns auch zur Frage: Weshalb erst jetzt? Wie sind die linken Organisationen mit der Psychologie im allgemeinen, der Psychoanalyse im besonderen umgegangen? Wo liegt die Angst vor der Verrücktheit, dem Irrsinn, vor dem «Chaos der Emotionen», vor der Frage nach der eigenen Subjektivität? Weshalb zeigte sich oft auch in linken Gruppen die Widerspiegelung des patriarchalischen, bürgerlichen Familienmodells mit der einhergehenden unbewussten Anpassung an hierarchische Machtstrukturen? Wie steht es demnach mit der Gewalt in den «eigenen Reihen»?
Durch die Forschungen in der Ethnopsychoanalyse wissen wir, dass niemals nur nach dem «Fremden» gefragt werden soll, ohne das «Eigene» mitzudenken, damit die automatische Reproduktion von Vorurteilen, die im Unbewussten verankert sind, vermieden werden kann. Dies gilt besonders für die Arbeit im Problemkreis der Traumatisierungen (durch Gewalterfahrungen, die Red.), die allzu leicht - besonders in Europa - zu einem exotischen interessanten Thema und zudem zu einem neuen Psycho-Markt pervertiert werden, in dem Spezialistlnnen ihre Objekte voyeuristisch untersuchen, oder im Gegenteil aus linker Solidarität sich überidentifizieren mit dem «Schicksal» des/der anderen, den «Helden- und Martyrerkult» pflegen.
Traumatisiert sind wir alle mehr oder weniger, bewusst und unbewusst. Es ist ein quan-titatives Problem, das mit den Umständen der spezifischen Realitätserfahrung zusammenhängt, wann und wie menschliches Leiden in eine traumatisierende Erfahrung umschlägt. Die Frage unseres persönlichen Engagements und der sechzigjährigen aktiven Hilfe des CSS in Ländern der so genannten «Dritten Welt» geht also auch nach «innen», führt zur Frage: Wo liegt meine Motivation für dieses Engagement? Wie bin ich persönlich verbunden mit dem Gefolterten oder der Vergewaltigten? Nur so erreichen wir eine wirkliche Solidarität, durch das Bewusstwerden des eigenen Leidens an diesem System, und dadurch wird die Auflehnung, der Widerstand und schließlich das politische Engagement aus der persönlichen Geschichte heraus mit der eigenen Leidenschaftlichkeit verbunden. Wenn das «Eigene», Subjektive ausgeblendet wird im politischen Kampf, dann gehen die Gefühle verloren, dann besteht die Gefahr, dass wir zu Technokraten des Hilfsdienstes oder zu Funktionären, zu Spezialisten verkümmern. Im Bereich der Traumatisierungen zu arbeiten, heißt ebenso wie im ganzen Bereich der «Geistigen Gesundheit», vorerst radikal auch sich selber in Frage zu stellen.
Welche konkreten Formen von Widerstand entwickelt werden können, die über eine oberflächliche «SymptombehandIung» hinausgehen und im besten Falle zu strukturel-len Veränderungen fuhren können, hängt unter anderem damit zusammen, wie sowohl den äußeren Machthabern wie auch den verinnerlichten Machtstrukturen «begegnet» werden kann. Das heißt, wie anstelle von Schweigen, Vergessen, Ungeschehenmachen, Verleugnen dem Grauen ins Gesicht geschaut werden kann. 

 

Ursula Hauser 

Lateinamerikanisches Treffenüber marxistische Psychologie und Psychoanalyse 15. - 19. Februar 1988 in La Habana/Kuba

Vom 15.-19.2.88 trafen sich in La Habana ca. 300 kubanische Psycholog/innen mit ungefähr der gleichen Anzahl auswärtiger, meist lateinamerikanischer Psychoanalytiker/innen, zu einem intensiven Erfahrungsaustausch. Organisiert wurde die Begegnung von der Universität La Habana zusammen mit einem Internationalen Komitee und funktionierte in Form von Arbeitsgruppen und themenzentrierten Plenarien.
Was machte diesen Anlass meiner Meinung nach zu mehr als die üblichen professio-nellen Kongresse und gibt ihm sozusagen "historischen Charakter"?
Zum einen ist es die Tatsache, dass ein halbes Jahrhundert Zwist zwischen den sozialistischen Psycholog/innen, die praktisch ausschließlich mit der Pawlow’schen Verhaltenstherapie arbeiteten, und den Psychoanalytiker/innen bestand. Wie bekannt sein dürfte, erreichte dieser Kampf in den 30iger Jahren einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Gruppe Psychoanalytiker/innen um Reich/ Fromm/Fenichel u.a., wobei die KPD die Psychoanalyse als "bürgerlich-idealistische" Wissenschaft kritisierte; andererseits warfen die Psychoanalytiker/innen der KPD eine dogmatische, undialektische und reduktionistische Denkweise vor. Seither gab es vorsichtige Annäherungsversuche zwischen den beiden "Schulen", aber grundsätzlich blieb das Misstrauen bestehen. Wohl hat die Verhaltenstherapie - besonders gefördert durch die Ausbildungszentren in den USA - auf dem lateinamerikanischen Kontinent ihren Boden gewonnen, aber die Psychoanalyse blieb am Rande und wurde von den sozialistischen Ländern nach wie vor geächtet. (?)
Deshalb bekommt dieses Arbeitstreffen auf Kuba eine spezielle Bedeutung, denn ich glaube, dass es eine neue Etappe in der Entwicklung der Psychologie markiert; sei es im theoretischen Feld der Suche nach einer revolutionären Sozialpsychologie, oder sei es in der praktischen Anwendung im Gesundheits- und Erziehungswesen. Beim I. "Encuentro" (Begegnung) vor 2 Jahren beherrschte noch der alte Graben die Stimmung, währenddem diesmal die Atmosphäre geprägt war von Neugierde, Offenheit und intensivem gemeinsamen Denken. Dies heißt nicht, dass jetzt plötzlich "Einigkeit" anstelle der Widersprüche getreten sei, aber die Debatten betrafen nicht mehr so sehr die verschiedenen Theorie- und Therapiekonzepte, sondern bezogen sich auf die politische Situation des lateinamerikanischen Kontinentes.
Und hier kommen wir zum 2. Punkt, der diesem Treffen historische Bedeutung gibt: Wenn die Kubaner/innen mit einem ungeheuer großen Interesse die Psychologie im allgemeinen und die Psychoanalyse im besonderen zu studieren beginnen, ist dies nicht - oder nicht nur - im Zusammenhang mit der "Perestroika" zu verstehen. (Überdies betonen sie sehr, dass ihr eigener Prozess der "Rectificacion" (Verbesserung) schon viel früher begonnen habe, indem z.B. Che Guevara bereits ein Ausdruck davon ist und jetzt auch deshalb sein Andenken um so mehr geehrt wird.). Vielmehr sind es in Kuba die konkreten Erfahrungen seit der Revolution, und zudem ist es die Geschichte der Befreiungsbewegungen aller Länder Lateinamerikas, die die vergangenen 30Jahre zu einer Quelle reichster, wenngleich schmerzlichster Erfahrungen machen für diesen Kontinent. Und dieses "Material" gilt es aufzuarbeiten!
Aktuellster Ausdruck dieser Geschichte war die Präsenz der Nicaraguaner/innen und ein abschließendes politisches Manifest des "Encuentros" gegen alle imperialistischen Aggressionen in Lateinamerika; aber auch die andere Seite war vertreten, unter anderem durch eine Chilenin, die mit der Frage nach den Menschenrechten auf Kuba auftrat.
Leute waren präsent, die selber Opfer von Folter und Verfolgung waren, ebenso wie bestimmt auch Psycholog/innen teilnahmen, die auf irgendeine Weise mit repressiven Regimes konspirieren. "Zulassungsbedingungen" für das Treffen gab es nicht, auch keine "Sicherheitsmassnahmen" während der 5 Tage. In andern Worten: es existierte weder eine Zensur politischer, ideologischer noch professioneller Art. Dies erlaubte es, "hic et nunc" das Hauptthema der "konkreten lntegrierung des Professionellen in die lateinamerikanische Realität" und damit die Beziehung zwischen politischem und psychologischem Denken und Handeln analysieren zu können. Wäre es ein "interner" Kongress gewesen, so hätte das Ergebnis niemals so reichhaltig ausfallen können; und gleichzeitig erkennen wir in der offenen Haltung Kubas seine gewonnene Stärke.
Alle Teilnehmer/innen nahmen für sich in Anspruch, Marxist/innen zu sein, und ein zentrales Thema war eben gerade, in welcher Form sich dieses Lippenbekenntnis in der sozialen Praxis konkretisieren kann. Natürlich stellt sich für die Kubaner/innen diese Frage in anderer Weise als für uns, die wir in kapitalistischen Ländern auf verschiedenste Art, manchmal klandestin und meistens unbezahlt, arbeiten müssen; aber das politisch-ideologische Problem bleibt dasselbe dort, wo es die Haltung des
Professionellen, sein Interpretationsmuster, seine persönlichen ethischen Werte und seine politische Geschichte betrifft.
In diesem Sinne standen im Mittelpunkt der theoretischen Diskussionen dieselben Themen, die auch die "Plattform"1)seit 1969 bewegt hat; aber was auf europäischem Boden eher abstrakt und deshalb politisch unfruchtbar bleiben musste, gewinnt auf diesem Kontinent politische Brisanz. Mindestens seitdem "Dokument von Santa Fe", Reagans strategischem Kriegs-plan für Lateinamerika, wissen wir, welche Bedeutung den Sozialwissenschaften im imperialistischen Feldzug zukommt. Schon Kennedy hat in den 60iger Jahren diese Seite des "Soft-Wars" mit Hilfe seines links-intellektuellen Stabs ausgearbeitet, und täglich erleben wir in vielfältiger Form die praktische Umsetzung dieses "Programms" in allen Ländern des Kontinentes. Weil inzwischen die direkte Auswirkung der Rolle der Psychologen und Sozialwissenschaftler als Helfershelfer von Diktaturen und liberaler Regierungen, die mit dem Imperialismus verbunden sind, offensichtlich wurde; und weil dabei weniger die technische und theoretische Ausbildung der Professionellen als ihre ideologische Definierung eine Rolle spielten, -als eine Tatsache wurde, dass sowohl Verhaltenstherapeuten wie auch Psychoanalytiker zu Folterknechten und Verhörspezialisten degenerierten und wie umgekehrt bekannt ist, wie viele Genossen beider "Schulen" wegen ihrer politischen Haltung ermordet wurden; dank dieser Erfahrungen bekamen technische Widersprüche eine sekundäre Rolle neben der politischen Bedeutung unseres Berufes. Exponent/innen von vielen Ländern gaben dazu ihre Augenzeugenberichte und Denunzierungen zu Protokoll.
Kubanische Frauen und Männer, die noch das Regime von Batista miterlebt haben, Genoss/innen aus Paraguay, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, El Salvador, Guatemala, Costa Rica, Honduras, Nicaragua und Mexiko tauschten ihre Erfahrungen aus, und es wurde einmal mehr offenkundig, dass in den meisten Ländern weder das Interesse noch die Möglichkeit besteht, die Psychologie als Wissenschaft und als Teil des Gesundheits- und Erziehungswesens zu fordern (oder fördern), außer dort, wo sie der Reaktion dient. Bei unseren Besuchen in Fabriken, Schulen und Gesundheitszentren in La Habana beeindruckte uns deshalb um so mehr die Tatsache, dass jetzt in Kuba überall Psycholog/innen mitarbeiten. Sei es im prophylaktischen Bereich oder in der medizinischen Betreuung, in den Produktionszentren oder im Quartier, an allen Orten wird die Wichtigkeit der menschlichen Beziehungen betont. Einerseits will Kuba mehr Psycholog/innen ausbilden, und andererseits sind sich die Kubaner/innen der therapeutischen Funktion der Kollektive bewusst. Es gibt dort kaum ein kleines Kind, eine schwangere Frau, ein kranker Greis oder eine psychisch labile Person, die sich verlassen fühlen müsste!
Auf medizinischem Gebiet ist ihre Devise: mehr angewandte Technologie erfordert intensivere menschliche Betreuung. Ein Beispiel dafür illustrierte eine Ärztin: "bei einer komplizierten Operation werden Patient/in, Familienangehörige sowie das medizinische Personal vor, während und nach dem Eingriff von einem Psychologenteam unterstützt!" Ein ähnliches Konzept wollen sie auf Betriebsebene, in den Schulen und in den Wohnquartieren einführen. "Wir wissen, dass das Schlimmste, was uns passieren kann, erstarrte Rollenverhältnisse sind; zwischen Administration und Basis, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Frau und Mann etc., aber der "neue Mensch" ist auch nach 30 Jahren noch nicht geboren", meinte eine Kubanerin und bezog sich damit vor allem auf den "Machismo". Gleichzeitig erzählte sie, dass in der Frauenorganisation jetzt vermehrt die Komplizenschaft der Frauen am Machismo analysiert wird, denn "als Lateinamerikanerinnen sind wir immer noch automatisch daraufhin dressiert, einen Buben mehr zu verwöhnen als ein Mädchen!" Offensichtlich macht es den Kubaner/innen viel Spaß, denn dies tun sie überall und über alle verschiedensten Themen. "Tabus" gebe es für die Jungen eigentlich keine mehr, hingegen beginne sie eine gewisse Interessenlosigkeit der Jugend an der Politik zu beschäftigen, sagte uns eine Veteranin der Revolution. Für ihre Generation gäbe es keine Probleme der "Motivation" oder "mistica"(Mystik, im Sinne des politischen Engagement), jedoch müssten sie dieses Phänomen bei den Jungen studieren. Im Zusammenhang mit solchen Problemen war der Austausch besonders rege und interessant, weil die Kubaner/innen mit der Verhaltenstherapie offensichtlich an Grenzen gestoßen sind und sich um mehr psychodynamische Modelle kümmern wollen. Familien- und Gruppendynamik interessiert sie ebenso sehr wie Sozialisationstheorien, und ihre Fragen drücken aus, dass mit moralischen Werten und direktiven Methoden oftmals eher das Gegenteil vom gewünschten Verhalten erzielt wird. Wir konnten auch feststellen, dass sich "das Unbewusste" seinen Platz verschafft hat...
In der Bemühung um die Entwicklung der revolutionären lateinamerikanischen Sozialpsychologie waren sich alle Teilnehmer/innen darin einig, dass diese aus der konkret-sinnlichen Erfahrung und durch direkte Teilnahme der Intellektuellen am gesellschaftspolitischen Prozess entstehen muss. Die Verführung, "fertige" Modelle aus der " Ersten Welt" in die "Dritte Weltländer" zu importieren, wurde als neo-kolonialistische Haltung kritisiert wie parallel dazu die vielfachen Bemühen der Metropolis, dem Trikont ihre Denk- und Arbeitsweise aufzuzwingen.
In diesem Zusammenhang gab es am "Encuentro" leidenschaftliche Auseinander-
setzungen, als es darum ging, einerseits Konzepte der "Abstinenz" oder "Neutralität" des Psychologen und andererseits häufige Deformationen unserer Berufsrolle zu analysieren, wie z.B. "Filantropismus", "Pater- und Maternalismus", "Versöhnungs- und Vermittlertrend", "Retter-Fantasien" und andere narzisstische Größenfantasien, "Missionierungsdrang" etc.. Diese Phänomene sind meistens Produkte unbewusster Konflikte, ebenso wie sie eine klassenspezifische Haltung ausdrücken. Ideologisch gesehen ist diese Bewusstseinsform reaktionär und wirkt sich politisch den progressiven Bewegungen gegenüber kontraproduktiv aus. Oftmals sind solche Haltungen aber auch bewusst und kennzeichnen den Opportunismus vieler Intellektueller, die zwar "links" sein -, in ihrer gesellschaftlichen Praxis jedoch keine Privilegien verlieren wollen. Solche Erfahrungen werden auf diesem Kontinent überall gemacht, vor allem mit Funk-tionär/innen von internationalen Organisationen (Entwicklungshilfe, Flüchtlingshilfe, Organisationen der UNO etc.), unter denen viele Psycholog/innen sind, auch verschiedentlich exilierte Leute, die oftmals "vergessen", wem und wie sie ihre Informationen weitergeben. Auch diese Erfahrung hat sich bitter bestätigt, dass "wer zahlt, befiehlt", und wer auf diesem Kontinent zahlen kann, meistens nicht zu den Subjekten revolutionärer Bewegungen gehört.
Das Problem der "Abstinenz" im therapeutischen Prozess wurde als "illusorisch" und den Klassenprivilegien des Professionellen dienende Haltung analysiert. Allerdings - und dies gerade in der Kritik an manipulativen-direktiven Methoden - existiert das Bewusstsein, dass es neue Parameter braucht, die ähnlich wie die "Verhaltensregeln" in der Klandestinität der konkreten Situation entsprechend zu entwickeln sind. Im kleinen Kreis wurden aus der Erfahrung gewonnene persönliche Erlebnisse analysiert und zum Studium dieser Problematik verwendet. "Antworten" und klare Richtlinien gibt es nicht, außer dem Wissen, dass auch in unserer politisch engagierten Berufspraxis nur Kreativität und nicht Schematismus weiterhilft, und dass diese im kollektiven gesellschaftlichen Prozess entsteht.
Dies ist das 3. Element, das dazu beigetragen hat, diesem "Encuentro" seine Bedeutung zu geben, nämlich das Zusammentreffen vieler Genoss/innen aus den verschiedensten Teilen des Kontinentes und Europas, die sich zum Teil "verschwunden" glaubten und sich über Jahrzehnte nicht gesehen haben. Die Möglichkeit, während einer Woche "unbesorgt" in einem Klima von Freundschaft, Herzlichkeit und Engagement Erfahrungen auszutauschen und neue Fragestellungen zu erarbeiten, war für viele Anwesende einzigartig.
Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsprojekte trafen sich auf dieser Insel ,die mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer Solidarität den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen gegenüber Ausdruck der sozialen Transformation ist. Keine "heile" Welt, aber eine gerechtere Gesellschaft!

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