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Lateinamerikanisches Treffenüber marxistische Psychologie und Psychoanalyse 15. - 19. Februar 1988 in La Habana/Kuba

Vom 15.-19.2.88 trafen sich in La Habana ca. 300 kubanische Psycholog/innen mit ungefähr der gleichen Anzahl auswärtiger, meist lateinamerikanischer Psychoanalytiker/innen, zu einem intensiven Erfahrungsaustausch. Organisiert wurde die Begegnung von der Universität La Habana zusammen mit einem Internationalen Komitee und funktionierte in Form von Arbeitsgruppen und themenzentrierten Plenarien.

Was machte diesen Anlass meiner Meinung nach zu mehr als die üblichen professio-nellen Kongresse und gibt ihm sozusagen "historischen Charakter"?

Zum einen ist es die Tatsache, dass ein halbes Jahrhundert Zwist zwischen den sozialistischen Psycholog/innen, die praktisch ausschließlich mit der Pawlow’schen Verhaltenstherapie arbeiteten, und den Psychoanalytiker/innen bestand. Wie bekannt sein dürfte, erreichte dieser Kampf in den 30iger Jahren einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung zwischen der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Gruppe Psychoanalytiker/innen um Reich/ Fromm/Fenichel u.a., wobei die KPD die Psychoanalyse als "bürgerlich-idealistische" Wissenschaft kritisierte; andererseits warfen die Psychoanalytiker/innen der KPD eine dogmatische, undialektische und reduktionistische Denkweise vor. Seither gab es vorsichtige Annäherungsversuche zwischen den beiden "Schulen", aber grundsätzlich blieb das Misstrauen bestehen. Wohl hat die Verhaltenstherapie - besonders gefördert durch die Ausbildungszentren in den USA - auf dem lateinamerikanischen Kontinent ihren Boden gewonnen, aber die Psychoanalyse blieb am Rande und wurde von den sozialistischen Ländern nach wie vor geächtet. (?)

Deshalb bekommt dieses Arbeitstreffen auf Kuba eine spezielle Bedeutung, denn ich glaube, dass es eine neue Etappe in der Entwicklung der Psychologie markiert; sei es im theoretischen Feld der Suche nach einer revolutionären Sozialpsychologie, oder sei es in der praktischen Anwendung im Gesundheits- und Erziehungswesen. Beim I. "Encuentro" (Begegnung) vor 2 Jahren beherrschte noch der alte Graben die Stimmung, währenddem diesmal die Atmosphäre geprägt war von Neugierde, Offenheit und intensivem gemeinsamen Denken. Dies heißt nicht, dass jetzt plötzlich "Einigkeit" anstelle der Widersprüche getreten sei, aber die Debatten betrafen nicht mehr so sehr die verschiedenen Theorie- und Therapiekonzepte, sondern bezogen sich auf die politische Situation des lateinamerikanischen Kontinentes.

Und hier kommen wir zum 2. Punkt, der diesem Treffen historische Bedeutung gibt: Wenn die Kubaner/innen mit einem ungeheuer großen Interesse die Psychologie im allgemeinen und die Psychoanalyse im besonderen zu studieren beginnen, ist dies nicht - oder nicht nur - im Zusammenhang mit der "Perestroika" zu verstehen. (Überdies betonen sie sehr, dass ihr eigener Prozess der "Rectificacion" (Verbesserung) schon viel früher begonnen habe, indem z.B. Che Guevara bereits ein Ausdruck davon ist und jetzt auch deshalb sein Andenken um so mehr geehrt wird.). Vielmehr sind es in Kuba die konkreten Erfahrungen seit der Revolution, und zudem ist es die Geschichte der Befreiungsbewegungen aller Länder Lateinamerikas, die die vergangenen 30Jahre zu einer Quelle reichster, wenngleich schmerzlichster Erfahrungen machen für diesen Kontinent. Und dieses "Material" gilt es aufzuarbeiten!

Aktuellster Ausdruck dieser Geschichte war die Präsenz der Nicaraguaner/innen und ein abschließendes politisches Manifest des "Encuentros" gegen alle imperialistischen Aggressionen in Lateinamerika; aber auch die andere Seite war vertreten, unter anderem durch eine Chilenin, die mit der Frage nach den Menschenrechten auf Kuba auftrat.

Leute waren präsent, die selber Opfer von Folter und Verfolgung waren, ebenso wie bestimmt auch Psycholog/innen teilnahmen, die auf irgendeine Weise mit repressiven Regimes konspirieren. "Zulassungsbedingungen" für das Treffen gab es nicht, auch keine "Sicherheitsmassnahmen" während der 5 Tage. In andern Worten: es existierte weder eine Zensur politischer, ideologischer noch professioneller Art. Dies erlaubte es, "hic et nunc" das Hauptthema der "konkreten lntegrierung des Professionellen in die lateinamerikanische Realität" und damit die Beziehung zwischen politischem und psychologischem Denken und Handeln analysieren zu können. Wäre es ein "interner" Kongress gewesen, so hätte das Ergebnis niemals so reichhaltig ausfallen können; und gleichzeitig erkennen wir in der offenen Haltung Kubas seine gewonnene Stärke.

Alle Teilnehmer/innen nahmen für sich in Anspruch, Marxist/innen zu sein, und ein zentrales Thema war eben gerade, in welcher Form sich dieses Lippenbekenntnis in der sozialen Praxis konkretisieren kann. Natürlich stellt sich für die Kubaner/innen diese Frage in anderer Weise als für uns, die wir in kapitalistischen Ländern auf verschiedenste Art, manchmal klandestin und meistens unbezahlt, arbeiten müssen; aber das politisch-ideologische Problem bleibt dasselbe dort, wo es die Haltung des

Professionellen, sein Interpretationsmuster, seine persönlichen ethischen Werte und seine politische Geschichte betrifft.

In diesem Sinne standen im Mittelpunkt der theoretischen Diskussionen dieselben Themen, die auch die "Plattform"1)seit 1969 bewegt hat; aber was auf europäischem Boden eher abstrakt und deshalb politisch unfruchtbar bleiben musste, gewinnt auf diesem Kontinent politische Brisanz. Mindestens seitdem "Dokument von Santa Fe", Reagans strategischem Kriegs-plan für Lateinamerika, wissen wir, welche Bedeutung den Sozialwissenschaften im imperialistischen Feldzug zukommt. Schon Kennedy hat in den 60iger Jahren diese Seite des "Soft-Wars" mit Hilfe seines links-intellektuellen Stabs ausgearbeitet, und täglich erleben wir in vielfältiger Form die praktische Umsetzung dieses "Programms" in allen Ländern des Kontinentes. Weil inzwischen die direkte Auswirkung der Rolle der Psychologen und Sozialwissenschaftler als Helfershelfer von Diktaturen und liberaler Regierungen, die mit dem Imperialismus verbunden sind, offensichtlich wurde; und weil dabei weniger die technische und theoretische Ausbildung der Professionellen als ihre ideologische Definierung eine Rolle spielten, -als eine Tatsache wurde, dass sowohl Verhaltenstherapeuten wie auch Psychoanalytiker zu Folterknechten und Verhörspezialisten degenerierten und wie umgekehrt bekannt ist, wie viele Genossen beider "Schulen" wegen ihrer politischen Haltung ermordet wurden; dank dieser Erfahrungen bekamen technische Widersprüche eine sekundäre Rolle neben der politischen Bedeutung unseres Berufes. Exponent/innen von vielen Ländern gaben dazu ihre Augenzeugenberichte und Denunzierungen zu Protokoll.

Kubanische Frauen und Männer, die noch das Regime von Batista miterlebt haben, Genoss/innen aus Paraguay, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien, El Salvador, Guatemala, Costa Rica, Honduras, Nicaragua und Mexiko tauschten ihre Erfahrungen aus, und es wurde einmal mehr offenkundig, dass in den meisten Ländern weder das Interesse noch die Möglichkeit besteht, die Psychologie als Wissenschaft und als Teil des Gesundheits- und Erziehungswesens zu fordern (oder fördern), außer dort, wo sie der Reaktion dient. Bei unseren Besuchen in Fabriken, Schulen und Gesundheitszentren in La Habana beeindruckte uns deshalb um so mehr die Tatsache, dass jetzt in Kuba überall Psycholog/innen mitarbeiten. Sei es im prophylaktischen Bereich oder in der medizinischen Betreuung, in den Produktionszentren oder im Quartier, an allen Orten wird die Wichtigkeit der menschlichen Beziehungen betont. Einerseits will Kuba mehr Psycholog/innen ausbilden, und andererseits sind sich die Kubaner/innen der therapeutischen Funktion der Kollektive bewusst. Es gibt dort kaum ein kleines Kind, eine schwangere Frau, ein kranker Greis oder eine psychisch labile Person, die sich verlassen fühlen müsste!

Auf medizinischem Gebiet ist ihre Devise: mehr angewandte Technologie erfordert intensivere menschliche Betreuung. Ein Beispiel dafür illustrierte eine Ärztin: "bei einer komplizierten Operation werden Patient/in, Familienangehörige sowie das medizinische Personal vor, während und nach dem Eingriff von einem Psychologenteam unterstützt!" Ein ähnliches Konzept wollen sie auf Betriebsebene, in den Schulen und in den Wohnquartieren einführen. "Wir wissen, dass das Schlimmste, was uns passieren kann, erstarrte Rollenverhältnisse sind; zwischen Administration und Basis, zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Frau und Mann etc., aber der "neue Mensch" ist auch nach 30 Jahren noch nicht geboren", meinte eine Kubanerin und bezog sich damit vor allem auf den "Machismo". Gleichzeitig erzählte sie, dass in der Frauenorganisation jetzt vermehrt die Komplizenschaft der Frauen am Machismo analysiert wird, denn "als Lateinamerikanerinnen sind wir immer noch automatisch daraufhin dressiert, einen Buben mehr zu verwöhnen als ein Mädchen!" Offensichtlich macht es den Kubaner/innen viel Spaß, denn dies tun sie überall und über alle verschiedensten Themen. "Tabus" gebe es für die Jungen eigentlich keine mehr, hingegen beginne sie eine gewisse Interessenlosigkeit der Jugend an der Politik zu beschäftigen, sagte uns eine Veteranin der Revolution. Für ihre Generation gäbe es keine Probleme der "Motivation" oder "mistica"(Mystik, im Sinne des politischen Engagement), jedoch müssten sie dieses Phänomen bei den Jungen studieren. Im Zusammenhang mit solchen Problemen war der Austausch besonders rege und interessant, weil die Kubaner/innen mit der Verhaltenstherapie offensichtlich an Grenzen gestoßen sind und sich um mehr psychodynamische Modelle kümmern wollen. Familien- und Gruppendynamik interessiert sie ebenso sehr wie Sozialisationstheorien, und ihre Fragen drücken aus, dass mit moralischen Werten und direktiven Methoden oftmals eher das Gegenteil vom gewünschten Verhalten erzielt wird. Wir konnten auch feststellen, dass sich "das Unbewusste" seinen Platz verschafft hat...

In der Bemühung um die Entwicklung der revolutionären lateinamerikanischen Sozialpsychologie waren sich alle Teilnehmer/innen darin einig, dass diese aus der konkret-sinnlichen Erfahrung und durch direkte Teilnahme der Intellektuellen am gesellschaftspolitischen Prozess entstehen muss. Die Verführung, "fertige" Modelle aus der " Ersten Welt" in die "Dritte Weltländer" zu importieren, wurde als neo-kolonialistische Haltung kritisiert wie parallel dazu die vielfachen Bemühen der Metropolis, dem Trikont ihre Denk- und Arbeitsweise aufzuzwingen.

In diesem Zusammenhang gab es am "Encuentro" leidenschaftliche Auseinander-

setzungen, als es darum ging, einerseits Konzepte der "Abstinenz" oder "Neutralität" des Psychologen und andererseits häufige Deformationen unserer Berufsrolle zu analysieren, wie z.B. "Filantropismus", "Pater- und Maternalismus", "Versöhnungs- und Vermittlertrend", "Retter-Fantasien" und andere narzisstische Größenfantasien, "Missionierungsdrang" etc.. Diese Phänomene sind meistens Produkte unbewusster Konflikte, ebenso wie sie eine klassenspezifische Haltung ausdrücken. Ideologisch gesehen ist diese Bewusstseinsform reaktionär und wirkt sich politisch den progressiven Bewegungen gegenüber kontraproduktiv aus. Oftmals sind solche Haltungen aber auch bewusst und kennzeichnen den Opportunismus vieler Intellektueller, die zwar "links" sein -, in ihrer gesellschaftlichen Praxis jedoch keine Privilegien verlieren wollen. Solche Erfahrungen werden auf diesem Kontinent überall gemacht, vor allem mit Funk-tionär/innen von internationalen Organisationen (Entwicklungshilfe, Flüchtlingshilfe, Organisationen der UNO etc.), unter denen viele Psycholog/innen sind, auch verschiedentlich exilierte Leute, die oftmals "vergessen", wem und wie sie ihre Informationen weitergeben. Auch diese Erfahrung hat sich bitter bestätigt, dass "wer zahlt, befiehlt", und wer auf diesem Kontinent zahlen kann, meistens nicht zu den Subjekten revolutionärer Bewegungen gehört.

Das Problem der "Abstinenz" im therapeutischen Prozess wurde als "illusorisch" und den Klassenprivilegien des Professionellen dienende Haltung analysiert. Allerdings - und dies gerade in der Kritik an manipulativen-direktiven Methoden - existiert das Bewusstsein, dass es neue Parameter braucht, die ähnlich wie die "Verhaltensregeln" in der Klandestinität der konkreten Situation entsprechend zu entwickeln sind. Im kleinen Kreis wurden aus der Erfahrung gewonnene persönliche Erlebnisse analysiert und zum Studium dieser Problematik verwendet. "Antworten" und klare Richtlinien gibt es nicht, außer dem Wissen, dass auch in unserer politisch engagierten Berufspraxis nur Kreativität und nicht Schematismus weiterhilft, und dass diese im kollektiven gesellschaftlichen Prozess entsteht.

Dies ist das 3. Element, das dazu beigetragen hat, diesem "Encuentro" seine Bedeutung zu geben, nämlich das Zusammentreffen vieler Genoss/innen aus den verschiedensten Teilen des Kontinentes und Europas, die sich zum Teil "verschwunden" glaubten und sich über Jahrzehnte nicht gesehen haben. Die Möglichkeit, während einer Woche "unbesorgt" in einem Klima von Freundschaft, Herzlichkeit und Engagement Erfahrungen auszutauschen und neue Fragestellungen zu erarbeiten, war für viele Anwesende einzigartig.

Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsprojekte trafen sich auf dieser Insel ,die mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer Solidarität den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen gegenüber Ausdruck der sozialen Transformation ist. Keine "heile" Welt, aber eine gerechtere Gesellschaft!

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